Kultur

Stummfilm "Die Stadt ohne Juden": Suche nach dem Sündenbock

Der jüdische Schriftsteller, Journalist und Sexualaufklärer Hugo Bettauer war eines der ersten Opfer der Nationalsozialisten. Am 10. März 1925 wurde er von einem „Hakenkreuzler“, dem arbeitslosen Zahntechniker Otto Rothstock „Aug’ in Aug“ mit fünf Schüssen niedergestreckt. Zwei Wochen später starb er an den Folgen seiner schweren Verletzungen. Der Mord erfolgte in den Redaktionsräumen von Bettauers Wochenschrift in der Lange Gasse 5–7 im 8. Wiener Gemeindebezirk, wo heute eine Gedenktafel an die Vorkommnisse erinnert.

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Die Ermordung Bettauers war der Gipfel einer politischen Auseinandersetzung, die mit dem Erscheinen von dessen Erfolgsroman „Die Stadt ohne Juden“ (1922) ihren Anfang genommen hatte. Bettauer galt als streitbarer Schriftsteller der sogenannten „Inflationsjahre“, die er besonders treffend in seinem berühmten Wiener Roman „Die freudlose Gasse“ (1924) beschrieb; G. W. Pabst verfilmte das Krimi-Sozialdrama 1925 mit Greta Garbo in der Hauptrolle.

In „Die Stadt ohne Juden“, einem „Roman von übermorgen“, griff Bettauer den antisemitischen Zeitgeist satirisch auf und entwarf eine Negativ-Utopie, in der die jüdische Bevölkerung aus Wien verjagt wird. Hans Karl Breslauer verfilmte den Bestseller als Billigproduktion im Jahr 1924, basierend auf dem Drehbuch der jüdischen Autorin Ida Jenbach. Jenbach wurde 1943 von den Nazis in Minsk ermordet.

Die umstrittene Film-Premiere fand im Juli 1924 statt, bei der Nazis Stinkbomben in die Kinosäle in Wien und Wiener Neustadt warfen.

Pariser Flohmarkt

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Im Jahr 2015 tauchte auf einem Pariser Flohmarkt eine Kopie von „Die Stadt ohne Juden“ auf, die fast 30 Minuten länger war als die bislang bekannte Fassung.

Das Filmarchiv Austria rekonstruierte daraufhin mithilfe einer Crowdfunding-Kampagne die alte Fassung von „Die Stadt ohne Juden“ und präsentierte eine digital restaurierte Neufassung mit einem Soundtrack von Olga Neuwirth. Diese feiert nun Montag Abend ihre TV-Premiere auf Arte (23.55 Uhr).

Der bedrückende, tragisch-komische Film „Stadt ohne Juden“ beginnt in der „sagenhaften Republik Utopia“ – unschwer als Wiener Ballhausplatz zu erkennen. Es herrscht Arbeitslosigkeit, Hungersnot und Inflation. Der Bundeskanzler – in Bettauers Roman eine deutliche Anspielung auf den antisemitischen Wiener Bürgermeister Karl Lueger – braucht einen Sündenbock.

Schon werden an den Stammtischen die Stimmen laut: „Hinaus mit den Juden!“ Hans Moser schwingt als glühender Antisemit Rat Bernart mit einem Weinglas in der Hand hetzerische Reden.

In der Folge muss die jüdische Bevölkerung in beklemmenden Szenen das Land verlassen und lässt die christlichen Einwohner jubelnd zurück. Doch die Freude ist von kurzer Dauer. Das erhoffte Wirtschaftswunder stellt sich nicht ein, stattdessen verfällt Wien der völligen Provinzialisierung. In dem ehemals schicken Modehaus Bisquit & Bruder werden auf einmal öde Lodenstoffe verhökert, Kaffeehäuser verwandeln sich in dumpfe Bierstuben. Die Industrie liegt desolat am Boden. Ohne der jüdischen Bevölkerung Wiens geht gar nichts mehr. Rückholüberlegungen werden angestellt – ganz im Gegensatz zum offiziellen Verhalten gegenüber den Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg.

Übrigens: Otto Rothstock, der Mörder Hugo Bettauers, kam nach nur zwei Jahren wieder frei und gab noch 1977 dem ORF ein Interview, in dem er sich mit seiner Tat brüstete.

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