Kultur

Einzelheiten sind nicht wichtig

Manche nannten ihn schlicht den "besten Reporter der Welt". Der 2007 verstorbene polnische Journalist und Schriftsteller Ryszard Kapuściński war eine Legende und neben Stanislaw Lem der meistübersetzte polnische Denker. Auch sieben Jahre nach seinem Tod ist er der meistgelesene Autor Polens.

Mehrfach ausgezeichnet für seine Reportagen über die Dritte Welt, sah er sich als Sprachrohr der Armen und Unterdrückten. Er soll 30 Staatsstreiche und Revolutionen miterlebt und mehrmals dem Tod ins Auge geblickt haben; wo Putsch, Bürgerkriege und Staatsgründungen stattfanden: da war Ryszard Kapuściński.

Viele seiner Bücher hat der österreichische Publizist Martin Pollack ins Deutsche übertragen. Die vorliegende Biografie wollte Pollack nicht übersetzen, sagte er der Deutschen Presseagentur. Sie enthalte viele Unterstellungen, der Biograf wolle Kapuściński kompromittieren, so Pollack.

Nobelpreis-Kandidat

Unumstritten ist, dass der Autor von "Fußballkrieg", "Meine Reise mit Herodot", oder "Der Andere" ein wunderbarer Schriftsteller war. 2005 soll er sogar für den Literatur-Nobelpreis im Gespräch gewesen sein.

Sein Landsmann, der Journalist Artur Domoslawski, hat in der Biografie "Kapuściński Non Fiction" gewaltig am Denkmal der Reporterlegende gerüttelt. Und damit, vor allem in Polen, großes Aufsehen erregt. Der ursprüngliche Verleger zog sich zurück, Kapuścińskis Witwe versuchte, die Publikation gerichtlich zu verhindern: In dem Buch kommen private Details wie Kapuścińskis Affären oder die schwierige Beziehung zu seiner Tochter vor.

Zu Beginn des 680-Seiten-Bandes, der auf Deutsch den sprechenden Titel "Leben und Wahrheit eines Jahrhundertreporters" trägt, weist Domoslawski darauf hin, dass sein Buch kein "Heiligenbild" werde. Den Hinweis hätte er sich sparen können. "Mentor" und "Freund" soll Kapuściński ihm gewesen sein. Die Biografie ist, trotz des Naheverhältnisses, das Domoslawski zu Kapuściński gehabt haben will, gewiss keine Seligsprechung. Und lässt dennoch auch Sympathie und Bewunderung für den durchblicken, dessen Legende er nun infrage stellt.

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Domoslawski verhandelt ausgiebig das politische Engagement des Geschichtsstudenten Kapuściński in der Zeit der stalinistischen Diktatur sowie den (nicht neuen) Vorwurf, dieser sei für den russischen Geheimdienst tätig gewesen. Die Angst, dass diese Zusammenarbeit auffliegen werde, habe ihn erdrückt. In einem Gedicht kurz vor seinem Tod schrieb er: "Was hätte ich denn tun sollen, sagen sollen – Nein?/Ich habe Ja gesagt/Von da an ist es immer weiter bergab gegangen/Was soll ich groß sagen".

Kapuściński war fast 30 Jahre lang Mitglied der kommunistischen Partei. Und zwar, so Domoslawski, nicht aus karrieretaktischen Gründen, sondern weil er den Sozialismus trotz seiner Mankos für die gerechtere Weltordnung als den Kapitalismus hielt.

Im Mittelpunkt der Biografie steht der Vorwurf, für den der "Jahrhundertreporter" mittlerweile fast so berühmt ist wie für seine Reportagen: Dass er es mit der Trennung von Fiktion und Wirklichkeit nicht so genau genommen habe. Auch nicht in der eigenen Biografie – zum Beispiel soll sein Vater nie Gefangener der Sowjets gewesen sein, wie er behauptete.

"Hat er, wenn er von seinem Leben erzählte, noch ein anderes Buch geschrieben? Ist Ryszard Kapuściński (...) eine reale Figur?", fragt Domoslawski.

Unerschrocken

Das Bild des unerschrockenen Kriegsreporters habe er zum Teil selbst geschaffen. Die Begegnungen mit Che Guevara oder dem kongolesischen Rebellen Patrice Lumumba, die seinen Weg zum Ruhm ebneten, haben Domoslawski zufolge gar nicht stattgefunden. Und sein berühmtestes Buch "König der Könige" über den äthiopischen Kaiser Haile Selassie sei zwar ein großartiges Buch, aber nicht die Wahrheit, sondern eine Parabel. Die Welt habe es als Faktenbericht missverstanden.

Einer Freundin gegenüber, die ihn auf eine wesentliche Ungenauigkeit in einem Text hingewiesen hatte, soll Kapuściński laut geworden sein: "Gar nichts verstehst du! Ich schreibe nicht, damit die Einzelheiten stimmen, es geht um wichtige Dinge!" Kapuściński wollte, schreibt Domoslawski, in erster Linie Schriftsteller werden.

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Als "nur Journalist" habe er, der Zeit seines Lebens Gedichte schrieb, sich minderwertig gefühlt. Zu dem Schriftsteller Andrej Czibot-Piotrowski soll er gesagt haben: "Du bist Dichter im polnischen Schriftstellerverband, ich bin nur ein Journalist." (Dieses Zitat gefällt Domoslawski so gut, dass es gleich zwei mal vorkommt: Auf den Seiten 73 und 512.)

Domoslawskis Fazit: Sein Mentor war nicht nur genialer Autor, sondern auch genialer Selbstvermarkter. Wenn dem so wäre: Schmälert das das Andenken an den großen polnischen Journalisten und Schriftsteller?

Es macht ihn zumindest um eine Facette reicher.

KURIER-Wertung:

INFO: Artur Domoslawski: „Ryszard Kapuściński. Leben und Wahrheit eines Jahrhundertreporters“. Rotbuch. 704 Seiten. 30,80 Euro.