Verstörender Viennale-Trailer aus psychiatrischem YouTube-Clip
Von Alexandra Seibel
Die Produktion des alljährlichen Trailers der Viennale hat eine lange, künstlerische Tradition. Profilierte Filmemacher wie Lav Diaz oder Paul Schrader gestalteten in der Vergangenheit prägnante Zweiminüter, mit denen das Programm des Wiener Filmfests eingeläutet wurde.
Auch heuer stammt der Trailer von kompetenter – diesmal weiblicher – Hand. Viennale-Chefin Eva Sangiorgi beauftragte die herausragende argentinische Filmemacherin Lucrecia Martel mit der Aufgabe, den diesjährigen Trailer zu gestalten.
Die eigenwillige, international hoch geschätzte Regisseurin sicherte sich bereits mit ihrem ersten Spielfilm „La Ciénaga“ (2001) einen prominenten Platz im neuen argentinischen Kino. Seitdem drehte sie nur drei Langfilme – zuletzt „Zama“ (2017); und nun einen Kurzfilm mit einer Dauer von 120 Sekunden für die Viennale.
„ AI“ („Artifical Intelligence“) nennt die 52-jährige Regisseurin ihren sinistren Clip, in dem zuerst nur ein Gesicht in Großaufnahme zu sehen ist, oder genauer gesagt: Ein Auge. Der Rest des Kopfes ist verpixelt. Es handelt sich offenbar um einen Mann, der mit sich selbst ein Zwiegespräch führt – mit unterschiedlicher Stimmlage, als wäre er schizophren.
Warum er sich in einem Spital befinde, will er von sich selbst wissen. Weil es der Psychiater so entschieden hat, lautet die emotionstote Antwort: „Weil ich nicht so bin wie andere Menschen.“
Ein hoher Ton wie aus einem Horrorfilm klagt auf dem Soundtrack und wird von Störgeräuschen und Gesangsfetzen begleitet. Das verpixelte Bild und die monotone Stimme geben dem Gesicht etwas Roboterhaftes, Mechanisches. Einzig das Auge flackert als letztes Zeichen menschlicher Regung verletzlich im digitalen Bytes-Strom.
Schizophren
Martel hat das ursprüngliche Material für ihren Trailer auf YouTube gefunden, einem medizinischen Lehrfilm der University of California aus dem Jahr 1961. Ein anonymer Arzt stellt einem schizophrenen Patienten mit autoritärer Stimme Fragen, der Mann ringt mit gebrochener Stimme um Antworten.
In „AI“ hat Martel das Gesicht des Befragten nicht nur verzerrt, sondern auch den Arzt-Patienten-Dialog zu einem irrwitzigen Monolog verschmolzen.
Er wolle für die Menschen Klavierspielen, sagt das verpixelte Gesicht. Seine Rede wird von Zwischenschnitten unterbrochen, die kurze Filmfragmente von Menschen und ihren Händen zeigen: Hände, die sich reiben, über Haare streichen, Tasten berühren – und Klavier spielen. Sie bilden einen hoffnungsvollen Kontrast zu der entkörperten Stimme und dem hilflosen Auge.
Hinter der Fassade der digitalen Entstellung drückt sich verzweifeltes, kreatives Verlangen aus. Die Sehnsucht nach dem Klavierspiel wird zum Aufbegehren eines Weggesperrten, der sich gegen die Automatisierungsindustrie zu Wehr setzt. Insofern versteht sich Lucrecia Martels „AI“ als Kritik an einer fortschreitenden Digitalisierung und deren Wirkungsallmacht: Ein tieftrauriger, beklemmender Trailer, der dem Programm der heurigen Viennale einen starken Auftakt schenkt.