Kultur

Peter Turrini: "Alle sind auf der Flucht"

KURIER: Am 25. Jänner bringt Herbert Föttinger im Theater in der Josefstadt Ihr Stück "Fremdenzimmer" zur Uraufführung. Waren Sie bei den Proben?

Peter Turrini: Ja, und ich bin zuversichtlich, dass es etwas Herzeigbares wird, es sind ja tolle Leute am Werk. Trotzdem gehen Uraufführungen nicht ohne Karambolagen ab. In der Regel schreibe ich ungefähr ein Jahr an einem Stück und habe sehr genaue Vorstellungen, wie das alles auf der Bühne aussehen soll. In meinem Schreibzimmer hüpfe und spiele ich mir die Rollen vor, ich bin ja ein verkappter Schauspieler. Dann komme ich auf die erste Durchlaufprobe und alles sieht nicht so aus, wie ich es mir vorgestellt habe. Früher bin ich beleidigt davongerannt, jetzt gehe ich in die Kantine, beruhige mich mit ein paar Whiskeys, gehe zurück auf die Probe und merke, dass ich nicht um mein Eigenes betrogen wurde, sondern mit etwas Neuem beschenkt wurde. Für so viel Gelassenheit musste ich ungefähr fünfzig Jahre üben.

Sie kennen Föttinger gut, denn er hat schon mehrere Ihrer Stücke aus der Taufe gehoben. Sich nicht zu quälen – und nur zur Uraufführung zu gehen?

Das kann ich nicht. Botho Strauss hat gesagt, er betritt kein Theater mehr, um sich Enttäuschungen zu ersparen. Aber ich liebe das Theater – vom Kantinenwirt bis zur lispelnden Souffleuse.

Die Uraufführung selbst muss ja die Hölle für Sie sein.

In den ersten Jahren bin ich im Zuschauerraum gesessen. Wenn es Leuten missfallen hat, haben sie mit missbilligendem Blick zu mir hergeschaut und leicht den Kopf geschüttelt. Das habe ich nicht mehr ausgehalten. Seitdem sitze ich in der Kantine und verfolge die Aufführung am Monitor. Ich hoffe, irgendeine Reaktion mitzukriegen, aber der Ton des Monitors ist sehr schlecht, und ich habe das Gefühl, das Stück funktioniert überhaupt nicht und bin verzweifelt. Kurz vor Ende der Aufführung holt mich der Föttinger zur Verbeugung auf die Bühne. Einige im Publikum stellen fest, dass der Autor etwas merkwürdig lächelt. Sie halten es für Abgeklärtheit.

Die Grundidee von " Fremdenzimmer" haben Sie schon vor mehr als zwei Jahren erzählt. Ist es für einen Dramatiker nicht furchtbar nervenaufreibend, derart lange bis zur Uraufführung warten zu müssen?

Diesmal war es in der Tat eine besonders große Herausforderung – wegen der Gegenwart, die sich ständig änderte. Am Anfang, als die Flüchtlingszüge ankamen, waren ja viele Menschen sehr willkommensbewegt. Inzwischen hat man bemerkt, dass diese Fremden auch eine eigene Geschichte und eigene Obsessionen mitbringen. Bei vielen Österreichern ist der Humanismus wieder verflogen. Und etliche, vor allem Regierungsmitglieder der FPÖ, wünschen sich das Entrechten, das Einsperren, das Wegsperren und das Abschieben dieser Menschen.

Sie mussten Ihr Stück daher mehrfach umschreiben?

Ja. Es beschreibt diese Entwicklung.

Ihre Stücke haben aber immer auch zeitlose, allgemeine Gültigkeit. Die Perspektivlosigkeit des kleinbürgerlichen Ehepaars in "Fremdenzimmer" gibt es mit oder ohne Flüchtlinge.

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Alle meine Stücke, von "Rozznjogd" über "Alpenglühen" bis "Fremdenzimmer" beginnen mit dieser Perspektivlosigkeit. Die Menschen sind eingemauert in ihre Enttäuschungen. Sie kleben an ihren Urteilen und Vorurteilen. In meinem Stück kommt ein syrischer Flüchtling, ein junger Bursche, in die Wohnung eines älteren Ehepaars und möchte sein Handy aufladen. Und alle diese Vorurteile entladen sich über ihn wie ein Gewitter. Aber mit der Zeit entdeckt das Ehepaar, dass sie eine Ähnlichkeit mit diesem Flüchtling haben. Auch sie möchten aus ihrem bisherigen Leben flüchten, aus ihrer erstarrten Beziehung ausbrechen. Der alte Postler bastelt Modellflieger und denkt sich ein Davonfliegen aus seinem Leben aus, und seine Lebensgefährtin geht ständig ins Admiral-Casino und hofft auf den großen Gewinn, der ihr die Erfüllung ihrer Wünsche bringen könnte. Mit dieser Entdeckung, dass wir alle mehr oder weniger auf der Flucht sind, öffnet sich die hermetische Konstruktion – und es gibt einen Ausblick.

In Ihren Stücken aber zumeist nur einen Moment lang.

Da haben Sie recht. Ich will ja nicht beim Happy End landen. Aber ich selbst brauche für mein Leben, indem sich manchmal einiges verdunkelt, Aussichten. Ich will die schönen Momente des Lebens nicht privatisieren und meinem Publikum vorenthalten. Wenn mein dreieinhalbjähriger Enkel am Wochenende zu Besuch kommt, dann kann ich ihm doch nicht sagen, dass dieser Weinberg hinter meinem Haus von den Spritzmitteln schon sehr vergiftet ist. Vieles, was wir uns erwünschen, ist eine Illusion. Deshalb dauert sie in meinen Stücken auch nur kurz. Aber ohne jegliche Aussicht kann man doch nicht leben, oder? Und ohne eine Spur Selbstbetrug auch nicht.

Basis Ihrer Stücke sind in der Regel Gespräche. War das auch bei "Fremdenzimmer" so?

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Ich höre den Menschen sehr geduldig zu und schreibe vieles von dem, was sie sagen, auf. Man könnte mich sogar einen Mundräuber nennen. Ich glaube, ich habe, bevor ich mit dem Schreiben von "Fremdenzimmer" begann, mit einem Dutzend Postlern geredet. Ich brauche Vorfindungen, um den Mut zur Erfindung zu haben. Natürlich kopiere ich nicht die Wirklichkeit, aus den Vorfindungen werden literarische Ausdenkungen. Mir ist jede Bühnenverrücktheit recht, einschließlich eines weißen Elefanten. Aber ich muss wissen, aus welchem Zirkus der weiße Elefant entlaufen ist.

Mitte Dezember erhielten Sie den Kärntner Kulturpreis. Bei der Verleihung haben Sie nur eine Frage formulieren können: "Warum gibt es so viele Menschen in diesem Land, die von einem adrett zugerichteten jungen Mann und einer Horde von Burschenschaftern das nächste Regierungsheil erwarten?" Haben Sie schon eine Antwort?

Was ich über Herrn Kurz gesagt habe, zielt nicht auf seine Frisiergewohnheiten oder sein gehobenes Tanzschülerbenehmen ab. Ich habe diesen Satz als politische Metapher gewählt – für ein Regierungsprogramm, das seine Grauslichkeiten hinter einem ständig verbindlichen Lächeln versteckt. Dieses Regierungsprogramm ist meiner Überzeugung nach feige und mutlos. Es ist feige, weil es gegen die Schwächeren vorgeht. Die Arbeitslosen, die ohnehin kein allzu schönes Leben haben, sollen als Durchschummler gebrandmarkt werden, damit man ihnen noch mehr wegnehmen kann. Ein alter Mann im Vatikan denkt darüber nach, wie man den Flüchtlingen helfen könnte – und ein 31-jähriger Bundeskanzler in Österreich sorgt dafür, dass man ihnen, die zumeist viel Entsetzliches auf ihrer Flucht hinter sich gebracht haben, Unterstützungen entzieht, wo und wie es nur geht. Warum kämpft er nicht gegen Konzerne, die jährlich Milliarden unversteuert außer Landes bringen? Dass die FPÖ ihm applaudiert, ist ja klar. Die üben eifrig Leni-Riefenstahl-artige Auftritte bei ihren Parteiveranstaltungen. Ich verstehe nicht, warum so viele ÖVP-Funktionäre, von Herrn Platter abgesehen, einfach nichts sagen und vor sich hinlächeln. Alle lächeln, selbst der bisswütige ehemalige Innenminister (Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka, Anm.) lächelt, obwohl ihm diese Maske wahrlich nicht steht. Wir sind im Land des Lächelns angekommen, endgültig, aber dahinter tobt die Hölle. Als Herr Blümel im Fernsehen gefragt wurde, ob er nicht auf die FPÖ einwirken wird, damit sie die Vereinigung der rechtsradikalen Parteien im Europaparlament verlässt, da redete er fünf Minuten, ohne etwas zu sagen und lächelte. Er blümelte vor sich hin. Die gesamte Regierung wird uns in Hinkunft anblümeln.

Und Justizminister Josef Moser verwendete nur Phrasen: "Die Schritte sind am Weg ..."

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So, wie es im Krieg ein erstes Opfer gibt, und das ist die Wahrheit, so gibt es bei dieser Regierung auch ein erstes Opfer, und das ist die Sprache. Herr Moser hatte noch vor zwei Jahren der Nation vorgerechnet, dass die private Unterbringung von Asylsuchenden ungleich kostengünstiger sei als die staatliche. Wie sollte er seinen Sinneswandel nach Erhalt seines Ministeramtes erklären? Er lächelte, er stotterte, er blümelte vor sich hin.

Hat die Sozialdemokratie dem etwas entgegenzuhalten?

Sie hat eine schreckliche Wahlwerbung hinter sich und hoffentlich mehr politische Substanz vor sich. Ich halte dieses bürgerliche Gerede, dass man die Linke nicht mehr braucht, weil ohnehin alle Forderungen der Arbeiterschaft erfüllt seien, für geistlos. Nur weil Begriffe wie "Arbeiterklasse" aus der Mode gekommen sind, heißt das nicht, dass die Arbeiterklasse aus der Welt verschwunden ist. Sie ist da und sie ist vorwiegend ausländisch geworden. Ich will Ihnen keine große Brandrede halten, ich bin ein alter Linker, der sich nicht zur politischen Mutation eignet. Erwarten Sie von mir daher keine Beschimpfung der Sozialdemokraten oder Grünen. Leute die am Boden liegen, beschimpft man nicht.

Das gilt auch für Peter Pilz?

Er ist politisch ein sehr mutiger Mensch und ich würde mich über seine Rückkehr freuen. Aber er muss die Vorwürfe gegen sich ausräumen können. Als Buße könnte er ja als Frau verkleidet mit Stöckelschuhen und um drei Uhr nachts durch einen finsteren Park gehen. Wenn man eine Situation umdreht, lernt man viel. Zu dieser Geschlechterdebatte möchte ich etwas Grundsätzliches sagen: Die Sexualität ist eine schmutzige Sache, man braucht nur an seine eigenen Fantasien zu denken. Sie ist eine Grenzüberschreitung – und das ist das Schöne, Anarchische an ihr. Männer fallen über Frauen her und manchmal auch Frauen über Männer. Wenn das in Übereinstimmung passiert, ist es eine Freude. Wenn nicht, dann bin ich für strengste Verkehrsregeln.

Zurück zur Sozialdemokratie: Hat sie nicht ihre Kernwählerschaft aufgegeben?

Es gibt eine Summe von Versäumnissen der SPÖ, aber über diese diskutiere ich mit Ihnen erst, wenn die SPÖ wieder an der Macht ist und die Schwarzen eine schützenswerte Minderheit sind.

Anders gefragt: Warum wählen die Kleinbürger die FPÖ, obwohl es ihnen dräuen müsste, dass diese für sie nicht gut ist?

Die Menschen schwanken, weil der Boden, auf dem sie stehen, schwankt. Also schwankt man mit. Schauen Sie sich doch hier in der Gegend um. Die Post wird geschlossen, die Polizei wird geschlossen, die jungen Leute finden keine Arbeit mehr und müssen abwandern, die Kreditverschuldungen der Häuslbauer sind hoch und die Arbeitslosigkeit auch. Wenn Sie nach Hollabrunn zu einem Gewerkschaftsfunktionär gehen und ihm Ihre Sorgen klagen, dann schaut der Sie an wie ein meditierender Buddhist, dem alles Irdische fremd ist. Die Menschen fühlen sich verlassen, Zorn und Rumor tobt in ihnen, und die FPÖ bietet ihnen etwas, auf das sie ihre negativen Gefühle richten können: Die Fremden, die Ausländer, die ihnen angeblich alles wegnehmen.

Ist der Hass auf die Ausländer gleichzusetzen mit jenem auf die Juden in den 30er-Jahren?

Bevor man eine Gruppe von Menschen der Verachtung preisgibt, muss man sie verächtlich machen. Bei den Juden ging das Schritt für Schritt. Erst wurden ihre Rechte eingeschränkt, dann wurden sie mit einem Stern gebrandmarkt und schließlich als Ungeziefer bezeichnet, das man vernichten müsse. Es gibt Funktionäre der FPÖ, die sich gegenüber Ausländern so verhalten, dass es nach dem Anfang einer solchen Entwicklung aussieht. Man soll ihnen das Geld abnehmen, man soll sie vor die Städte karren, man soll sie wegsperren in konzentrierten Lagern und so weiter. Die Sprache verrät die Absichten, die dahinterstecken. Die Gudenuse werden in diesem Land häufiger und lauter. Das finde ich ungleich schlimmer als diese Gasthausblödheiten gegen Ausländer, denen ich hier manchmal begegne. Aber wenn man mit dem Objekt seiner Ablehnung konfrontiert ist, zum Beispiel auf einer gemeinsamen Baustelle, dann löst sich diese Animosität ziemlich bald auf und man trinkt miteinander.