Kultur

Wenn die Nachricht "vermisst" Hoffnung bedeutet

Was bedeuten die Worte "vermisst, vermutlich gefallen?"

Es bedeutet, dass man sich den "Telegrammjungen" wegwünscht. Dass man sein Läuten nicht hören mag. Sie nennen ihn "Junge", obwohl er ein Mann mittleren Alters ist. Die "Jungen" sind alle an der Front. Elinor wünscht sich, dass Der "Telegrammjunge" rüber zu den Nachbarn geht. Die haben drei Söhne, die können es sich leisten, einen zu verlieren.

"Vermisst, vermutlich gefallen" bedeutet, dass kurze Zeit nach dem Telegramm ein großes, braunes Paket kommt. Man macht es auf und der Geruch der Front ist im Raum: "Fauliges Wasser, Chlorgase, Verfall."

Elinors Mutter wird sich nach der Nachricht vom Tod ihres Sohnes Toby in eine "weiße Schnecke" auf dem Wohnzimmersofa verwandeln, sie wird Geräusche ausstoßen, die man nie von ihr gehört hat, und ihre Schönheit wird von einem Tag auf den anderen verschwinden.

Und Elinor ...

... zieht sich zurück in das Zimmer ihres gefallenen Bruders, in dem die Mutter so oft am Fester gesessen ist, wartend, mit ausdruckslosem Gesicht.

Pat Barker beschreibt in ihrem Roman "Tobys Zimmer" – einer Hommage an Virginia Woolfs Roman "Jacobs Zimmer" – die Schicksale einer Handvoll junger Leute vor, während und nach der Zeit des Ersten Weltkriegs. Die Toten, die Versehrten, und die Schuldgefühle jener, die überlebt haben.

Im Zentrum stehen Elinor und ihr Bruder Toby. Die beiden ähneln einander wie eineiige Zwillinge. Tatsächlich hatte Toby eine Zwillingsschwester, die noch im Mutterbauch gestorben ist. Elinor, wenig später geboren, nimmt die Stelle dieses Zwillings ein. Die beiden sind unzertrennlich, doch es verbindet sie mehr als nur Geschwisterliebe. Sie sind einander die erste Frau und der erste Mann.

Der einzige Zeuge

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Elinor wird später auf der Kunstakademie andere Männer kennenlernen, Toby wird sie misstrauisch beäugen. Einer davon, Kit, wird später Tobys Kriegskamerad. Als Toby fällt, ist Kit der einzige Zeuge.

Elinor will unbedingt herausfinden, was passiert ist. "Vermisst, vermutlich gefallen", bedeutet ihr lange Zeit Hoffnung. Als junge Künstlerin zieht sie sich immer mehr zurück und malt nichts anderes als Kriegslandschaften. Und immer wieder Tobys Schatten. Der tote Bruder wird ihr zur Muse.

Pat Barker, 1995 mit dem Booker-Preis ausgezeichnet, berichtet von ehemals unbeschwerten jungen Menschen, die gesehen haben, wie aus ihren Kameraden Fleischklumpen wurden. Wie der Schwerenöter von einst statt einer Nase nun einen Krater im Gesicht hat. Und wie Mütter ihre verunstalteten Söhne umarmen.

Es gelingt dieser wunderbaren Erzählerin, die Frage nach dem "Was ist passiert?" über fast 400 Seiten spannend zu halten.

Darüber hinaus erzählt "Tobys Zimmer" die wahre Geschichte davon, wie die Kunst sich im Ersten Weltkrieg in den Dienst der Wissenschaft stellte: Wie Künstler wie Elinor nun statt Landschaften Männer ohne Kiefer zeichneten. Sie zeichneten Verwundungen, um die Schrecken für die Nachwelt festzuhalten und um Gesichtsrekonstruktionen zu ermöglichen. Viele dieser Bilder existieren heute noch.

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