Oscar-Orakel: Wer gewinnen wird – und wer gewinnen sollte
Um es gleich vorab zu sagen: Das Kinojahr 2014/15 war ein gutes. Jedenfalls aus künstlerischer Sicht. Praktisch alle der acht nominierten Filme wurden im Laufe des vergangenen Jahres schon einmal als Top-Anwärter auf den Gewinn in der Königskategorie bei den Oscars 2015 gehandelt. Ob "Grand Budapest Hotel", "Boyhood", "Selma" oder "Birdman" - die Zeiten, in denen sich Filme wie "Titanic" und "Herr der Ringe" um den wichtigsten Oscar des Jahres sicherten, scheinen endgültig vorbei.
Alexandra Seibel und Karl Oberascher haben sich alle nominierten Filme in der Kategorie "Bester Film" noch einmal genau angesehen und zeigen die Chancen, die ihnen die Buchmacher geben - und verraten, wen sie gerne in der Nacht auf Montag als Sieger sehen würden.
Vorab zur Orientierung - alle Oscarnominierungen 2015 im Überblick:
Hier geht's zu unserem Oscar-Special
ORF eins überträgt die Verleihung in der Oscar-Nacht (22./23. Februar) ab 1.30 Uhr live - KURIER.at wird für Sie live mittickern.
Laut Oddschecker.com - die Seite wertet die aktuellen Wetttrends verschiedener Anbieter aus - haben folgende Kandidaten die besten Chancen:
Welcher Film gewinnen wird: "Birdman"
Was wir uns wünschen: "Birdman" - Weil Iñárritus Superhelden-Tragikomödie mit großem Witz und unglaublicher Feinfühligkeit das Drama eines Künstlers und seiner künstlerischen Produktion erzählt.
Wer bester Hauptdarsteller wird: Eddie Redmayne
Wen wir uns wünschen: Michael Keaton - Weil der einstige Batman und jetzige Birdman offensichtlich weiß, was es heißt, das Schicksal eines ehemaligen Hollywood-Superhelden zu tragen.
Wer bester Regisseur wird: Alejandro González Iñárritu
Wen wir uns wünschen: Richard Linklater - Weil seine Familienexkursion, die über zwölf Jahre andauert, eine großartige Regieleistung bedeutet
Wer beste Haupdarstellerin wird: Julianne Moore
Wen wir uns wünschen: Julianne Moore - Weil ihre konzentrierte Performance von der ersten bis zur letzten Minute sehenswert ist.
Wer bester Nebendarsteller wird: J. K. Simmons
Wen wir uns wünschen: Edward Norton - Weil er in "Birdman" in seiner Rolle als eitler Schauspieler ein unglaublich großzügiges und uneitles Schauspiel abliefert.
Wer beste Nebendarstellerin wird: Patricia Arquette
Wen wir uns wünschen: Patricia Arquette - Weil ihr Kampf um Selbstachtung und Selbstbestimmung in "Boyhood" zu einem der berührendsten Momente des gesamten Films führt.
Wer bester nicht-englischsprachiger Film wird: Mauretanien mit "Timbuktu"
Wen wir uns wünschen: Timbuktu - Weil er atemberaubend über den zivilen Terror der Islamisten in Malis Hauptstadt Timbuktu erzählt.
Bereits im März 2014 in die Kinos gekommen, ist kein Film so lange im Oscarrennen, wie die schräge Komödie von Wes Anderson, die von der Belegschaft eines Grandhotels irgendwo in Osteuropa vor dem Zweiten Weltkrieg erzählt. Neben der für Wes Anderson typischen Bildsprache überzeugt der Film vor allem mit der internationalen Schauspielgarde. Noch die kleinste Rolle ist prominent besetzt – von Willem Defoe bis – jawohl, Karl Markovics. Im Zentrum steht Ralph Fiennes als umtriebiger Conçierge, der einen Kunstraub begeht. Mit feinem Humor und detailverspielten Bildern entwirft Anderson seine Welt von Gestern zwischen Ironie und echter Anteilnahme (hier finden Sie die gesamte Filmkritik).
Mit neun Oscarnominierungen ist "The Grand Budapest Hotel" gemeinsam mit "Birdman" der am häufigsten nominierte Film bei den 87. Oscars, womit die Komödie auch zum Favoritenkreis in der Kategorie "Bester Film" zählt. Laut Oddschecker.com - die Seite wertet die aktuellen Wetttrends verschiedener Anbieter aus - darf sich "The Grand Budapest Hotel" in dieser Kategorie aber höchstens Außenseiterchancen ausrechnen. Aktuell wird der Film hier auf Platz 4 geführt.
Es ist inzwischen gute Tradition, dass der Gewinner des Sundance Film Festivals auch bei den Oscars gesetzt ist - quasi als (inzwischen) willkommener Beitrag der Indie-Filmszene abseits des Systems Hollywood. In diesem Jahr gewann dort das Musikdrama "Whiplash" - eine 3,3 Millionen-Dollar-Produktion um den über-ehrgeizigen Jazzschlagzeuger Andrew Neyman, der auf den nicht minder ehrgeizigen Lehrer Terence Fletcher trifft. Ein ungleiches Duell, das J. K. Simmons, der den despotischen Dozenten gibt, zum heißesten Oscar-Anwärter als bester Nebendarsteller einbrachte.
Regisseur Damien Chazelle inszeniert das Duell spannend wie einen Krimi. Kein Wunder, dass Chazelle seinen Film in Interviews weniger ein Musikdrama, als vielmehr einen Kriegsfilm, nennt (hier finden Sie die komplette Kritik zum Film).
Ein Gewinn wäre dennoch eine Sensation. Oddschecker.com reiht den Film an vorletzter Stelle. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass "Whiplash" gewinnt, könnte man bei bet365 aus einem 125 Pfund machen, bei skybet würde man seinen Gewinn verhundertfachen.
Schon die Produktionsgeschichte ist oscarreif: 12 Jahre lang begleitete Regisseur Richard Linklater den Jungen Mason (Ellar Coltrane) und seine Patchwork Familie. Mehr "Coming of Age" geht nicht. "Boyhood" ist, sagt Linklater, ein Film über die Zeit und wie sie vergeht. Über die Jugendlichen und Eltern und die Blessuren, die entstehen, wenn beide erwachsen werden. Das Leben in diesem Film ist wie das Leben selbst: Eine Reihe von Fehlern und Fehlentscheidungen, von Zufällen, von Glücksfällen (hier geht's zur Kritik auf KURIER.at)
Dafür räumte "Boyhood" zuletzt bei allen wichtigen Filmpreisen ab: Ob bei den BAFTAs oder den Golden Globes, immer hieß der Gewinner des Abends "Boyhood", was den Film auch für die Oscarverleihung in der Nacht auf Montag zum Favoriten macht. Die Buchmacher prohezeien ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit "Birdman". Ethan Hawke ist als bester Nebendarsteller nominiert, dürfte neben J. K. Simmons jedoch nur Außenseiterchancen haben. Dafür gilt Patricia Arquette - Wettquoten-technisch - als Favoritin für den Oscar als beste Nebendarstellerin. Und wer bester Regisseur wird, das machen sich laut Wettquoten Richard Linklater und Alejandro González Inarritu ("Birdman", siehe unten) untereinander aus.
Mit diesem Film hatte niemand gerechnet. Michael Keaton, der als "Batman" Anfang der 90er für klingende Kinokassen sorgte und dessen Glanzzeit als Schauspieler also schon ein Weilchen her ist, dreht einen Film über einen abgehalfterten Schauspieler, der Anfang der 90er als "Birdman" zum Superstar wurde und seine kaputte Karriere mit einem Broadway-Stück zu retten versucht - und liefert damit selbst das Comeback des Jahres.
Regisseur Alejandro González Inarritu gelingt ein unerwartet komischer Kommentar (Inarritu galt mit "Amores Perros" und "Babel" als Meister der schweren Kost) auf Hollywoods Blockbusterkino, der gekonnt mit dem Verhältnis zwischen Kunstanspruch und Kommerz spielt (hier geht's zur Langkritik)
Neun Oscarnominierungen sind der Dank. Die wichtigsten Oscar-Kategorien werden "Boyhood" und "Birdman" wohl unter sich ausmachen. Michael Keaton wird sich mit Eddie Redmayne ("Theory of Everything") um den Darstelleroscar streiten, Nebendarsteller Edward Norton wird sich wohl J. K. Simmons geschlagen geben müssen. Alejandro González Inarritu wird sich laut Buchmacher den Oscar für die beste Regie abholen und damit Richard Linklater ausstechen.
Vor allem in den USA ist Stephen Hawking - weltberühmt durch Werke wie "Eine kurze Geschichte der Zeit" - nicht nur in wissenschaftlichen Kreisen ein Star. Der Physiker ist ein Popphänomen, hatte schon Gastauftritte bei den "Simpsons", in "Futurama" und der "Big Bang Theory".
"In die Entdeckung der Unendlichkeit" hat der Brite James Marsh ("Man on Wire") das Leben Hawkings 2014 erstmals für das Kino verfilmt - und zwar in erster Linie als Ehegeschichte. Sie beruht auf den Memoiren von Hawkings erster Frau Jane, die er kurz vor dem Ausbruch seiner Krankheit kennenlernte. Unprätentiös, atmosphärisch stimmungsvoll und schauspielerisch exzellent gespielt, entfaltet der Brite die Szenen einer Ehe. (hier geht's zur Langkritik).
Im Rennen um den besten Film, werden "Theory of Everything - Die Entdeckung der Unendlichkeit" nur krasse Außenseiterchancen eingeräumt. Oddschecker.com reiht das Drama an 6. Stelle - ex aequo mit "Whiplash". Dafür gilt der Brite Eddie Redmayne neben Michael Keaton als heißester Anwärter für den Darsteller-Oscar.
Für viele wäre die Oscar-Nominierung zum besten Film ein gewaltiger Erfolg. Bei "Selma" aber war die geringe Zahl der Nominierungen – zwei, für "bester Film" und "bester Song"– trotzdem eine Enttäuschung. Und wurde zum Auslöser einer erbitterten Diskussion über die Relevanz der Oscars und die Zusammensetzung der Academy.
"Die Academy besteht zu 74 Prozent aus weißen Männern", kritisierte Hauptdarsteller David Oyelowo im KURIER-Gespräch. Schwarze wären immer als Sklaven und Diener gefeiert worden – der erste Oscar ging an Hattie McDaniel, die ein Dienstmädchen in "Vom Winde verweht" spielte. "Aber ein Schwarzer als Anführer? Das ist etwas ganz anderes." (Das gesamte Interview finden Sie hier).
Abseits dieser Kontroverse konzentriert sich der Film über Martin Luther King auf den von ihm organisierten Protestmarsch im Jahr 1965. Der Bürgerrechtler hatte zum Marsch gerufen, nachdem in Selma, Alabama, ein schwarzer Demonstrant von einem weißen Polizisten erschossen worden war. Die brutale brutale Niederschlagung der Proteste live im TV rüttelte damals ganz Amerika auf.
Die Buchmacher räumen dem Film, David Oyelowo hat es vorweg genommen, nur Außenseiterchancen ein. 150:1 steht etwa die Quote bei bet365, der Wettanbieter spreadex würde aus einem sogar 200 Pfund machen. Auch Regisseurin Ava DuVernay zeigte sich in Interviews enttäuscht, nicht nominiert worden zu sein. Sie wäre die erste weibliche schwarze Regisseurin unter den Oscar-Nominierten gewesen.
Hierzulande kommt "American Sniper" erst am 27. Feber in die Kinos, in den USA ist der Film aber gerade noch fristgerecht für die Oscars 2015 gestartet - und das äußerst erfolgreich. Der Kriegsfilm entwickelte sich innert kürzester Zeit zum Kassenschlager und ist mit Einnahmen von bis dato 394 Millionen Dollar der mit Abstand erfolgreichste Film unter den diesjährigen Nominierten - das sind Blockbuster-Ausmaße.
Dass sich "American Sniper" auch als veritabler Oscaranwärter gilt, ist Altmeister Clint Eastwood - Amerikas Spezialist für patriotisches Kino mit Anspruch - zu verdanken. Er erzählt die wahre Geschichte von Chris Kyle, dem erfolgreichsten Scharfschützen, der jemals in den US-Streitkräften gedient hat als Porträt eines Zerrissenen. Ein Kampf zwischen Pflicht und Moral, zwischen Ansprüchen seiner Familie und seines Landes.
Die Frage, ob es sich dabei nun um ein Heldenepos oder einen Antikriegsfilm handle, sorgte in Amerika für kontroverse Diskussionen. "Scharfschützen sind keine Helden", kritisierte etwa der linke Filmemacher Michael Moore auf Twitter. Verteidigt wurde "American Sniper" ebenfalls von den üblichen Verdächtigen. Sarah Palin, die mit Kyle befreundet war, wandte sich in einem wütenden Facebook-Posting an die "Hollywood Leftists": "Ihr spuckt auf die Gräber der Freiheitskämpfer" (mehr dazu hier)
Ob Antikriegsfilm oder Heldenepos, die US-Kritiker waren sich so oder so einig: Einer der besten Filme des Jahres, lautete das einhellige Urteil. Hauptdarsteller Bradley Cooper darf sich auch Außenseiter-Hoffnungen auf den Oscar als bester Hauptdarsteller machen. Sein größter Konkurrent in dabei sind Eddie Redmayne ("Theory of Everything") und Michael Keaton.
Acht Oscar-Nominierungen heimste das englischsprachige Debüt des norwegischen Regisseurs Morten Tyldum ein. Es ist die liebevolle Geschichte des britischen Mathematikers Alan Turing. Und es ist die Geschichte von "Christopher". Jene Rechenmaschine, die Tyldum erfand, um den Code des Verschlüsselungsapparats "Enigma" der Deutschen zu knacken. Ein historischer Stoff, aus dem die Oscars sind.
Dennoch: "The Imitation Game" ist brav-biederes Historienkino mit relativ simpel gestrickten Spannungsverläufen (hier geht's zur Langkritik).
Zusatzlich zur Nominierung für den besten Film, wurden Morten Tyldum dafür als bester Regisseur, Benedict Cumberbatch als bester Hauptdarsteller, und Keira Knightley als beste Nebendarstellerin nominiert. Zumindest Außenseiterchancen darf sich aber - wenn überhaupt - nur Benedict Cumberbatch ausrechnen.
Die nominierten Damen stehen heuer seltsamerweise ein wenig im Schatten der nominierten Herren. Zum einen gibt es die allseits beliebten Brit-Prinzen wie Eddie Redmayne und Benedict Cumberbatch, die mit ihrem Insel-Charme und der Selbstentäußerung ihrer Extremrollen das Publikum in Bann halten. Eine Reese Whiterspoon als Rucksack-Touristin macht sich da vergleichsweise uncharismatisch aus, und auch Rosamunde Pike - übrigens ebenfalls Britin - kann da nicht mithalten. Nicht, weil sie nicht gut genug wären, sondern einfach deswegen, weil Filme mit Frauen im Zentrum (wie etwa "Der große Trip - Wild") offensichtlich die Öffentlichkeit weit weniger interessieren. Die notorische Meryl Streep zum x-ten Mal - diesmal als Hexe in dem Musical "Into the Woods" - zu nominieren, wenn auch nur in einer Nebenrolle, veranlasst da höchstens zum Schnarchen. Dafür können sich alle auf die tatsächlich verlässlich großartige Julianne Moore einigen, die als Alzheimer-Kranke in "Still Alice" die Sympathien auf sich zieht. Insgesamt aber handelten sich die diesjährigen Oscar-Nominierung Kritik von allen Seiten ein - darunter auch von jenen, die völlig zu Recht festgestellt haben, dass Frauen heuer praktisch wieder einmal unsichtbar sind - sei es in der Kategorie Beste Regie oder etwa in Hinblick auf Autorenschaften bei Drehbüchern.
Der Oscar ist eben immer noch "a white man's world".