"Mutige und kluge Stimme": Reaktionen auf den Tod von Gerhard Roth
Der österreichische Schriftsteller Gerhard Roth ist tot. Der gebürtige Grazer verstarb am heutigen Dienstag im Alter von 79 Jahren in seiner Heimatstadt Graz, wie Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer (ÖVP) bestätigte. "Ich war mit Gerhard Roth durch eine enge Freundschaft verbunden, auch wenn ich seine politischen Ansichten nicht immer teilte", so Schützenhöfer. Das offizielle Österreich kondolierte: "Seine Prosa lotete das Österreichische aus, mitunter schmerzhaft, nie ungerecht, stets aber in literarisch höchster Qualität", sagte Bundespräsident Alexander Van der Bellen am Abend.
Groß und politisch
Gerhard Roth war einer der großen, zugleich stets politischen Erzähler und Literaten Österreichs. Berühmt wurde der am 24. Juni 1942 in Graz geborene Autor vor allem durch seinen siebenteiligen Zyklus "Die Archive des Schweigens", an dem er zwischen 1978 und 1991 arbeitete. Auch der folgende "Zyklus Orkus", der anschließend entstand und 2011 vollendet wurde, sicherte ihm einen Platz in der Ruhmeshalle der heimischen Schriftsteller. Unter anderem der Große Österreichische Staatspreis 2016 war der Lohn für dieses Jahrzehntelange Engagement.
Bundespräsident Alexander Van der Bellen würdigte den Verstorbenen als "mutige und kluge Stimme", Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer (Grüne) würdigte die Romanzyklen "Die Archive des Schweigens" und "Orkus" als "literarische Kontinente, durch die wir noch lange reisen werden". Der ORF ändert sein Programm.
"Gerhard Roth war einer der bedeutendsten österreichischen Schriftsteller, dem es in bester Weise gelungen ist österreichische Geschichte und Geschichten zu erzählen", reagierte auch Eva Blimlinger, Kultursprecherin der Grünen. In seinen beiden Romanzyklen finde sich "alles, was gewusst werden sollte, in einer Sprache, die im besten Sinne das Epische zum vollkommenen Lesegenuss macht".
Auch die IG Autorinnen Autoren zeigten sich am Mittwoch tief betroffen. Roth habe "nicht nur ein Monumentalromanwerk hinterlassen, er gehört auch zum engsten Kreis derjenigen Autoren, die Graz in den 1970er Jahren zur 'heimlichen Literaturhauptstadt' oder auch 'unheimlichen Literaturhauptstadt' gemacht haben", so Gerhard Ruiss. "Er war ein Autor, der sich sowohl der Engstirnigkeit als auch allen nationalistischen Strömungen mit aller Entschiedenheit entgegenstellte, er ist unbeirrbar für eine offenere Welt im Kleinsten wie im Größten eingetreten."
"Eine Ausnahmeerscheinung in der Literaturwelt" war Roth für Wiens Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler (SPÖ): "Seine Texte zeichnen sich durch Geduld, Genauigkeit, Tiefe und Konzentration aus und sind heute ein widerständiges Werk in einer von Oberflächlichkeit und Schnelllebigkeit geprägten Zeit." Im Mittelpunkt seiner virtuos erzählten und recherchierten Texte stünden die sogenannten kleinen Leute wie Arbeiter, Bauern, Mägde und Knechte, Sonderlinge und tragische Figuren. "Dabei schwingt immer großes Verständnis, Respekt und liebevolle Zuneigung mit. Anhand dieser Einzelschicksale führt uns Gerhard Roth durch österreichische Geschichte und Geschichten", so Kaup-Hasler.
Auch der steirische Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer (ÖVP) nahm von seinem persönlichen Freund Abschied: "Die Steiermark verliert einen sorgfältigst Wahrnehmenden und literarisch Schenkenden, dem wir Beschenkte zu großem Dank verpflichtet sind. Ich verneige mich vor einem großen Literaten und liebevollen Betrachter der Menschen."
Klaus Kastberger, der Leiter des Literaturhauses Graz, bezeichnete Gerhard Roth als scharfen Beobachter der österreichischen Verhältnisse, der stets auch übergeordneten Werten der Verständigung und der Solidarität verpflichtet gewesen sei: "Seine großen Romane und Romanzyklen bilden ein breites Panorama einer Prosa der angespannten Aufmerksamkeit. Gerhard Roths Bücher werden uns in ihrer ungeheuren Detailfülle in Erinnerung bleiben. Sie zählen zum Kernbestand der österreichischen und europäischen Literatur."
Große Zyklen
Sein umfangreiches Werk reicht über die Romanzyklen "Archive des Schweigens" und "Orkus" über den Essayband "Portraits" bis hin zum Fotobuch "Im Irrgarten der Bilder" und den Roman "Grundriss eines Rätsels".
Er blieb ein Grazer
Geboren wurde Roth, der 2016 mit dem Großen Österreichischen Staatspreis ausgezeichnet wurde, 1942 in Graz. Nach dem Willen seines Vaters, eines Arztes, studierte er ab 1961 in seiner Heimatstadt Medizin, brach jedoch 1967 ab. 1966 bis 1977 arbeitete er als Programmierer und Organisationsleiter im Grazer Computerrechenzentrum, um neben seiner literarischen Tätigkeit seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Ab den frühen 1970er-Jahren veröffentlichte er experimentelle Prosa (etwa 1972 "die autobiographie des albert einstein") und versuchte sich auch als Theaterautor ("Lichtenberg", "Sehnsucht", "Dämmerung").
Erstling im Jahr 1980
Ein großzügiger Vorschuss des S.Fischer Verlags ermöglichte es Roth, sich ganz auf die Arbeit an den "Archiven des Schweigens" zu konzentrieren. 1980 erschien als erstes Buch "Der stille Ozean" (eine Verfilmung durch Xaver Schwarzenberger errang 1983 den Silbernen Bären der Berlinale). Mittelpunkt des aus den unterschiedlichsten literarischen Gattungen zusammengesetzten Zyklus, in dem Fiktion und (auch fotografische) Dokumentation ineinanderfließen, ist das 1984 erschienene 800-Seiten-Buch "Landläufiger Tod". 1991 wurde der Zyklus mit "Die Geschichte der Dunkelheit" abgeschlossen.
Blaue Empörung
Mit "Der See", dem Auftakt-Roman seines Zyklus "Orkus", sorgte Roth 1995 für Aufregung in den Reihen der FPÖ, die in einem populistischen Politiker, auf den beinahe ein Attentat verübt wird, ihren damaligen Parteiobmann Jörg Haider wiedererkannte. Danach erweiterte Roth mit "Der Plan" (1998) und "Der Berg" (2000), "Der Strom" (2002) und "Das Labyrinth" (2005) seine Schauplätze um Japan, Griechenland, den Balkan, Ägypten, Wien, Madeira und Madrid. Es folgte der Essay-Band "Die Stadt", "Das Alphabet der Zeit" und schließlich 2011 mit "Orkus. Reise zu den Toten" ein großer Abschlussband, in dem Figuren und Motive aus beiden Zyklen verwoben, Erfundenes und Gefundenes, Dokumentarisches, Essayistisches und Fiktionales verschmolzen wurden.
Essays über Kunst und Politik
In seinem Band "Portraits" wurden Essays versammelt, die Roth im Laufe der Jahrzehnte über Künstler und Politiker, Kollegen und Zeitgenossen geschrieben hat, in dem Fotobuch "Im Irrgarten der Bilder" ist eine Auswahl seiner Fotos der Gugginger Künstler erschienen. 2014 fügte er seinem Oeuvre mit dem Roman "Grundriss eines Rätsels" ein weiteres gewichtiges Werk hinzu.
Klare politische Haltung
Roth war für sein schriftstellerisches Werk wie auch für seine in Reportagen, Essays und Interviews eingenommene klare politische Haltung vielfach ausgezeichnet worden. "Gerhard Roth hat eine Art von Herzensbildung, die gar nicht anders kann, als Anteil zu nehmen an der körperlichen und geistigen Not anderer", sagte Laudator Andre Heller 2003 bei der Verleihung des "Goldenen Ehrenzeichen für Verdienste um das Land Wien" an Roth, der ein "Eichmeister der österreichischen Wirklichkeit" sei.
Kein Lamm
"Das Schweigen der Lämmer, und sei es noch so friedlich, kann nicht der Maßstab für die Grenzen der Toleranz sein", meinte Roth selbst anlässlich der Verleihung des Toleranz-Preises des österreichischen Buchhandels 1994. Zuletzt kam zu seinen zahlreichen Preisen im Herbst 2015 der mit 15.000 Euro dotierte Jean-Paul-Preis dazu, im selben Jahr wurde ihm auch der Bremerhavener Literaturpreis zugesprochen.
Erinnerungsarbeit
"In immer wieder neuen literarischen Formen umkreist er die Vergangenheit Österreichs und schreibt damit nicht nur eine etwas andere Geschichte unseres Landes, sondern unternimmt mit seiner Erinnerungsarbeit eine Abenteuerreise in die menschliche Seele", würdigte ihn der damalige Kulturminister Josef Ostermayer (SPÖ) anlässlich der Bekanntgabe der Verleihung des Staatspreises 2016. Seinen Vorlass hat Gerhard Roth bereits vor Jahren an die Stadt Graz verkauft.
Ö1 ändert sein Programm: Am Donnerstag liest Helmut Berger in den "Radiogeschichten" (11.05 Uhr) aus "Orkus", am Freitag ist zum "Im Gespräch"-Termin ab 16.05 Uhr eine Ausgabe der "Tonspuren" zu hören: Das von Nikolaus Scholz gestaltete Feature aus dem Jahr 2012 begibt sich unter dem Titel "Der Vermesser von Obergreith" auf die Spuren von Gerhard Roth in der Südweststeiermark. Ebenfalls aus dem Jahr 2012 stammt die Ausgabe der "Gedanken" am Sonntag (13. Februar, 9.05 Uhr): In "Die Erinnerung ist eine Fata Morgana in der Wüste des Vergessens" spricht Gerhard Roth über Erlebtes und Imaginiertes in den Archiven des Dichters.
Auch im ORF-Fernsehen gibt es Programmänderungen: ORF III bringt am Freitag um 23.50 Uhr die Verfilmung von dessen gleichnamigem Roman "Der See" mit Gabriel Barylli und Heribert Sasse in den Hauptrollen. Roths Sohn Thomas führte bei dem Streifen aus 1996 Regie. In ORF 2 stehen zudem im Rahmen des "kulturMontags" die Dokumentation "Schreiben ist Leben - Gerhard Roth" (23.30 Uhr) und danach der von Xaver Schwarzenberger nach einem Drehbuch von Roth inszenierte TV-Krimi "Ein Hund kam in die Küche" (0.00 Uhr) am Programm.