Neues Album von Kendrick Lamar: Die Rap-Krone hält
Von Marco Weise
Das Erwartbare zuerst: Kendrick Lamar festigt mit seinem neuen Album seinen Status als einer der wichtigsten, weil gescheitesten und reflektiertesten Rapper, die die Hip-Hop-Welt derzeit zu bieten hat. Wobei man in diesem Zusammenhang relativierend dazu sagen sollte, dass die Konkurrenz nicht gerade groß ist. Egal. Weiter zum Wesentlichen: Der wohl tiefsinnigste Rapper seiner Generation ist zurück. Nach fünf Jahren Pause legte der US-Amerikaner soeben sein neues Werk vor - es steht seit Freitag (13. Mai) auf Spotify und anderen digitalen Diensten zum Abruf zur Verfügung.
Es wurde mit "Mr. Morale & The Big Steppers" betitelt und einem Cover ausgestattet, das seine Geschichte erzählt: Das Bild zeigt nämlich den privaten Kendrick Lamar – und das ist für den normalerweise wenig aus seinem Privatleben preisgebenden Rapper durchaus ungewöhnlich. Zu sehen ist der Rapper mit seiner inzwischen fast dreijährigen Tochter auf dem Arm. In Kendricks Hosenbund steckt eine Pistole, auf dem Kopf trägt er eine an Jesus Christus erinnernde Dornenkrone. Im Hintergrund hält seine langjährige Freundin Whitney Alford ein frisch geborenes Baby im Arm: Kendrick Lamar ist offensichtlich zum zweiten Mal Vater geworden.
Die Familie, das Papa-Dasein und die damit verbundenen Herausforderungen und Probleme verhandelt Kendrick Lamar in seinen 18 (!) neuen Tracks. Eröffnet wird das Album mit einem zwangsoptimistischen Kirchenchor, der die Suche nach Frieden, nach dem Paradies noch nicht aufgegeben hat: "United in Grief" heißt das Stück. In Trauer vereint. Dazu stolpert eine fragile Klaviermelodie und rattert ein Beat in eine ungewisse Zukunft.
Dechiffrierung
Auf dem als Doppelalbum erscheinenden "Mr. Morale & The Big Steppers" werden alle möglichen persönlichen, politischen und kulturellen Themen angesprochen. Der Kalifornier erzählt von seinem Leben als junger Vater und von Therapiesitzungen, verweist auf den Streit zwischen Kanye West und Drake, richtet den Blick auf die afro-amerikanische Community, die sich noch immer mit Rassismus und Diskriminierung herumschlagen muss. Bei all diesen Zeilen, Geschichten, die Kendrick Lamar für die 18 Songs geschrieben hat, wird es noch eine Weile dauern, bis die Fans, die Neider und Kritiker das Gesagte, das Nichtgesagte, das zwischen den Zeilen Stehende analysiert und dechiffriert haben.
Was die Lyrik und das Storytelling betrifft, schließt der 34-Jährige an sein letztes, 2017 veröffentlichtes und mit fünf Grammys gekrönte Meisterwerk „DAMN“ an, für das er obendrein mit einem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde. Lamar ist damit der erste Rapper, der den Preis erhalten hat, der erste Musiker, der nicht aus der Klassik oder dem Jazz kommt. Das Album sei eine "virtuose Liedersammlung, vereint von seiner umgangssprachlichen Authentizität und rhythmischen Dynamik", urteilte damals die Jury. Es biete "eindringliche Momentaufnahmen, die die Komplexität des modernen afro-amerikanischen Lebens einfangen".
Wegweiser
Geboren wurde Kendrick Lamar in Duckworth im Juni 1987 in einer Problemgegend von Chicago. Seine Eltern wollten der hohen Kriminalität dort entgehen und zogen in seinen ersten Lebensjahren ausgerechnet nach Compton - in den berüchtigten Gangster-Stadtteil von Los Angeles, der eine Reihe großer Westcoast-Rapper wie Dr. Dre, Ice Cube oder Coolio hervorbrachte.
Als ältestes von vier Kindern fing Lamar mit acht Jahren an zu freestylen. Sein Hauptthema seien dabei Drogen gewesen. Das hat er mal erzählt - und dass die meisten der Kinder in seiner Grundschulklasse mittlerweile tot oder im Gefängnis sind. Seit jeher mit Kriminalität konfrontiert, rappt Lamar bis heute darüber - wie es ist, als junger Schwarzer in Amerika aufzuwachsen, über Armut und Waffengewalt, Vorurteile und Träume.
Lamar hat sich mit seinem Major-Label-Debüt "Good Kid, M.A.A.D. City" (2012) als einer der ambitioniertesten Rapper der Millennial-Generation etabliert. Für sein Nachfolgewerk "To Pimp a Butterfly" (2015) holte er sich eine Reihe von Musikern aus der Jazzszene ins Boot, darunter Kamasi Washington und Thundercat. Dieses Album, "ein Werk über das Leben unter ständiger rassistischer Überwachung“, enthält u. a. den Song "Alright", der zu einer inoffiziellen Black-Lives-Matter-Protesthymne wurde. Seit Jahren gilt er als "State of the Art" des US-Hip-Hop. Als Poet der Stunde eines ganzen Genres: emphatisch, philosophisch, kompromisslos, furchtlos, innovativ.
Niemand bringt Stimmungslagen, Gefühle so auf den Punkt, keiner gibt die gesellschaftliche Richtung so vor wie der 34-Jährige. Das zeigte er auch bei seinem phänomenalen Superbowl-Halbzeitauftritt vor einigen Monaten. Dass es Kendrick Lamar musikalisch gerne abwechslungsreich haben möchte, konnte man zuletzt bei "The Heart Part 5" hören. In dem kürzlich veröffentlichten, als Vorbote auf das neue Album gedeuteten Stück rappt Lamar über soulig-funkigen Rhythmen und einem Sample des Marvin-Gaye-Songs "I Want You" hinweg. Überraschenderweise hat es "The Heart Part 5" jetzt aber nicht auf das Album geschafft.
"Die Hard"
Kendrick Lamar experimentiert auf "Mr. Morale & The Big Steppers" mit unterschiedlichen Stilen, Beats und Gemütslagen. In "Die Hard" wird zum Beispiel ein herrlich tiefenentspannter Slow-Motion-House-Beat mit lieblich-poppigen Melodien und "Fuck-the-Pain-away"-Texten versehen. Das Ergebnis ist einfach nur großartig.
Für die 18 Nummern hat sich Kendrick Lamar auch Unterstützung geholt. Neben den erwartbaren Hilfeleistungen von z.B. Thundercat, Ghostface Killah, Kendricks Cousin Baby Keem, begegnet man auch überraschenden Gästen wie zum Beispiel Beth Gibbons von Portishead. Vom Klavier begleitet, von sanften Männerchören umkreist, wechseln sich die beiden in "Mother, I Sober" am Mikrofon ab. Das ist berührend - und zum Niederknien schön. Musikalisch wird es heuer wohl kaum besser gehen. Die Rap-Krone gehört weiterhin Kendrick Lamar.