Kultur

N. Erpulat: "Ich bin ein Erfolgskanake"

Mit seinem Stück "Verrücktes Blut", in dem er den Amoklauf einer Deutschlehrerin wegen der Bildungsresistenz ihrer Migrantenklasse beschreibt, wurde er zum Shootingstar der deutschsprachigen Theaterszene. Das Branchenblatt Theater heute kürte seinen Text 2011 zum "Deutschsprachigen Stück des Jahres"; er wurde als "Nachwuchsregisseur des Jahres" ausgezeichnet. Nun inszeniert Nurkan Erpulat am Volkstheater Maxim Gorkijs Vorrevolutionsstück "Kinder der Sonne". Premiere ist am 27. April.

KURIER: Das ist Ihre erste Gorkij-Regie. Warum wollten Sie "Kinder der Sonne" machen?
Nurkan Erpulat: Weil Gorkij darin die Intelligenzia unter die Lupe nimmt, die sich in ihrem Weltschmerz verliert und die Welt draußen vergisst. Da steht aber eine Masse auf – und die hat Kraft. Gorkij sagt: Vorsicht, Vorsicht! Die Masse ist gewalttätig, vielleicht auch dumm. Und deshalb hat die Intelligenzia die Verantwortung, sie zu unterstützen, sie zu leiten; sie darf sich nicht im Elfenbeinturm verschanzen. "Kinder der Sonne" ist das prophetische Revolutionsdrama schlechthin.

Das klingt ja so, als fühlten Sie sich von Gorkij direkt angesprochen.
Ja. Ich bin ein Erfolgskanake. Mal sehen, wie viele von uns Deutschland verträgt. Ich muss also als Intellektueller Verantwortung für andere übernehmen. Das ist mein Zugang zu "Kinder der Sonne". Ich will die Migranten der dritten Generation mitnehmen, sie auf ihrem Weg begleiten. Leute sagen manchmal zu mir: Du bist schon ein Deutscher geworden. Ich weiß, sie meinen das nett, aber für mich ist es kein Kompliment.

"Ich mag Multikulti."

Sie haben gesagt, würde man Ihnen den Integrationsbambi verleihen, würden Sie ihn sich in den Arsch schieben. Welches Wort nervt Sie mehr: Integration oder Multikulti?
Das Wort Multikulti mag ich, mein erster Job war in Berlin bei "Radio Multikulti". Ich habe in der Türkei unter der Monokultur gelitten, es war zum Schreien. Ich habe fast verzweifelt jemanden gesucht, der anders ist, andere Wurzeln hat, nicht weiß, hetero, männlich ist. Mit dem Wort Integration habe ich tatsächlich Probleme, weil es so oft missbraucht wird. Ein Beispiel: In Deutschland hat ein Migrant der dritten Generation einen Ehrenmord begangen. Das ist schrecklich und dumm ...

Aber?
Aber, wenn die Zeitungen schreiben: Er ist ein schlechtes Beispiel für Integration, schickt ihn heim! Was soll das heißen? Heim nach Berlin-Kreuzberg? Der Typ ist dort geboren, in die Schule gegangen, spricht Deutsch, aber nicht Türkisch – wer könnte integrierter sein? Trotzdem, natürlich sind solche wie der nicht auf der Matte. Das ist ein massives Problem, das müssen wir als Gesellschaft untersuchen und versuchen zu lösen.

Sie sind mit „Verrücktes Blut“, das in Wien in der Garage X läuft, und demnächst auch in Norwegen und Dänemark inszeniert wird, mit einem Schlag berühmt geworden. Sie arbeiten nun am Volkstheater. Erwartet man von Ihnen auf alles den postmigrantischen Blick?
Natürlich gibt es manchmal diese Erwartung. Aber hier ist das nicht so. Hier gibt es keine Einschränkung, was meinen künstlerischen Blick auf Gorkij betrifft. Michael Schottenberg hat mir das Angebot auch schon gemacht, bevor "Verrücktes Blut" am Ballhaus Naunynstraße (das derzeit die künftige Ko-Intendantin der Wiener Festwochen, Shermin Langhoff, leitet) herauskam. Klar, war ich da schon "der türkische Regisseur". Das bin ich auch alles: Regisseur, Linkshänder, Türke ...

Und?
Schwul. Bei mir ergeben zwei Minus ein Plus. Ich erfülle so viele Antiklischees, bei mir greifen so viele Vorurteile gegen türkische Männer nicht: Die schlagen ihre Frauen, zeugen mindestens fünf Kinder, stinken, weil sie sich nicht waschen... Wenn man schwul ist, fällt das weg. Letzteres, weil wir Schwule ja sehr körperbewusst sind, wie alle wissen. (Er lacht.) Ich habe auch in "Verrücktes Blut" diese Klischees ironisiert und am Ende dekonstruiert. Im Wissen übrigens, dass 40 Prozent des Publikums die Ironie nicht mitkriegen, sondern sich bestätigt fühlen. Da muss man halt auch durch.

"Theater muss politsch sein"

Sie sind ein sehr politischer Mensch. Was fällt Ihnen an Österreich auf?
Zum einen: Theater ist politisch. Muss politisch sein, sonst ist es nur ein teures Vergnügen. Wir beanspruchen Steuergelder, für die müssen wir etwas sagen, eine Reibungs-, eine Diskussionsfläche bieten. Ich hoffe, dass mit „Kinder der Sonne“ der rote Stern am Volkstheater noch heller leuchtet.

Zum anderen?
Was mir in Österreich auffällt, ist, dass es kaum türkische Künstler gibt. In Deutschland gibt es Filmregisseure, Schauspieler, Kabarettisten ... In den Achtzigerjahren hat die Politik bei uns sehr dafür gearbeitet. Nach der Zusammenführung mit Ost-Deutschland hatten sie andere Sorgen.

Verfolgen Sie auch, was in der Türkei passiert?
Zum Teil mit großem Schrecken. Dieser Weg weg von der Demokratie tut mir weh. Ich habe Anfragen aus so vielen Ländern, sogar zwei Unis in den USA haben mich eingeladen, Workshops zu halten. Nur aus der Türkei kommt nichts.

Zur Person: Autor und Regisseur

Anfänge: Erpulat wurde 1974 in Ankara geboren. Er studierte an der Uni in Ìzmir (Spezialfach: Shakespeare), dann in Berlin an der Schauspielschule „Ernst Busch“, wo er der erste Türke war, der für eine Regieausbildung angenommen wurde. Dass ihn ein Unterrichtender nicht in die Shakespeare-Klasse nehmen wollte, weil „das nicht zu Ihrer Kultur passt“, erzählt er heute als Anekdote.

Erfolge: 2008 inszenierte er erstmals ein von ihm geschriebenes Stück, „Jenseits – Bist du schwul oder bist du Türke?“, 2011 folgte „Verrücktes Blut“. Erpulat hat in Berlin den Verein „Gladt“ (Gays and Lesbians aus der Türkei) mitgegründet, der u. a. auch Deutschkurse anbietet. Seit dieser Spielzeit ist er Hausregisseur am Düsseldorfer Schauspielhaus.