"Verschwendung" von Talenten: Es sollte "die kleine Chance" heißen
Von Peter Temel
* Disclaimer: Das TV-Tagebuch ist eine streng subjektive Zusammenfassung des TV-Abends*
Aktuelle Geschichten sollten üblicherweise nicht mit einem „vor elf Jahren“ beginnen. Aber bei einem Text über eine Talentshow kann man eine Ausnahme machen.
Also, vor etwa elf Jahren war das ORF-Event „Die große Chance“ überschattet von der sogenannten Sido-Heinzl-Watschenaffäre. Nach einer der Liveshows war es zu einem unschönen Streit gekommen, der die Öffentlichkeit tatsächlich mehrere Wochen in Atem hielt.
Gewalt und Verbalinjurien - das passte damals schon nicht ins Bild der Familienunterhaltungsshow. Dieses Jahr, beim erneuten Comeback der „Großen Chance“, soll aber sowieso alles anders werden. Nicht nur durch den Zusatz "Let's sing and dance".
Eine von Grund auf positive Stimmung will der ORF verbreiten, ohne „Minus-Geschichten“, in denen Kandidaten vorgeführt würden. "Wir setzen auf Sterne und Herz-Buzzer“, hieß es im Vorfeld.
Und siehe da, diese Vorgabe wurde bei der Premiere am Freitag fast zwei Stunden lang mehr als eingehalten.
Über das „fast“ wird nachher noch zu sprechen sein.
Viele Herzen
Einen Anteil an der erfrischend positiven Grundstimmung hat Abendshow-Newcomerin Fanny Stapf. Sie strahlt unaufhörlich, schickt gemeinsam mit Andi Knoll Herzen, zückt und drückt die Daumen, spricht gut zu.
Das Moderations-Duo steht diesmal nicht auf der Showbühne, sondern schickt die Talente aus dem Backstage-Bereich nach vorne. Im Hintergrund postiert, kommentieren sie dann teilweise das Geschehen. Vor allem Knoll agiert hier im Stil des Song-Contest-Kommentators, der nun aber auch in die Darbietungen reingrätschen darf. Manchmal ist das witzig („ein bissl wie Apocalyptica beim Villacher Fasching“), manchmal aber auch störend. Wenn etwa der 15-jährige Pauly gerade ein hochemotionales, selbst geschriebenes Lied trällert. Da meint Knoll, der Gastjuror Thorsteinn Einarsson überlege wohl schon, wie er seinen künftigen Charts-Konkurrenten elegant aus dem Rennen bugsieren soll.
Ein bisschen "Bad Cop"
Einarsson gibt in der Show tatsächlich ein bisschen den "Bad Cop“. Aber eben nur ein bisschen. Der Wahl-Österreicher aus Island - selbst ein Sohn der „Großen Chance“ - versucht sich sogar im Slapstick. Von einer Breakdance-Gruppe lässt er sich - geschützt durch sein volles Haupthaar - auf dem Kopf stehend über den Bühnenboden drehen. Der isländische Mop wird anschließend sogar noch einmal wiederholt. Lustig.
Der reine „Good Cop“ ist Model und Unternehmerin Barbara Meier. Die Dauer-Jurorin ist stets mit drei Sternen zur Stelle, wenn die Jury-Kollegen einmal zu wenig Sterne fürs Weiterkommen vergeben haben. Denn sieben von zehn Sternen sind das Minimum, um im Rennen zu bleiben.
Einarsson hatte zum Beispiel dem schüchternen Pauly nur zwei Sterne gegeben, weil er noch 2-3 Jahre Zeit brauche. Auch Missy May, Sängerin und „Dancing Stars“-Siegerin, geizte bei dem Burgenländer mit Sternen.
Ansonsten wird aber auffällig oft der Neuner vergeben. Und eben drei Mal wird der „Herz-Buzzer“ betätigt. Missy May schickt die FRK Dance School mit ihrer volkstümlichen Breakdance-Show weiter.
Meier begeistert sich am meisten für die Dance Industry (Knoll: "Zum ersten Mal ist ein Dino auf der Bühne") und Einarsson unterstützt die feine Crossover-Rockband KGW3.
Ein bisschen "Minus"
Was immer mehr klar wird: In voller Länge werden in der aufgezeichneten Show nur jene Acts gezeigt, die zumindest sieben Sterne erhalten haben. Jene acht Acts, die auch kritischere Kommentare bekommen haben, werden mittels Schnelldurchlauf abgehandelt. Das ist zwar nicht vergleichbar mit früheren „Leider Nein“-Schienen bei „Starmania“, stellt aber dennoch eine Art „Minus-Geschichte“ dar. Immerhin wird dieser heikle Teil mit Anstand bewältigt.
Doch am Ende zeigt sich ein zunächst unerwartetes, aber letztlich deutliches Manko des Showkonzepts.
Um das zu erklären, muss man kurz im Schnelldurchlauf zurückspulen: Man hatte gerade 17 gute bis sehr gute Acts gesehen, von denen viele nicht nur die Jury begeistert hatten. Okay, der Schmäh des Männergesangsvereins Bürmoos, der plötzlich südafrikanische Weisen zu Bongo-Rhythmen sang, geht genau ein Mal auf. Auch der Falco-Imitator „Wiena Werna“ war nett, aber ist wohl eher ein „One-Trick-Pony“. Insgesamt ist das Niveau sehr hoch angesiedelt.
Fünftelung
Und nun der Schock: Nur noch zwei Darbietungen dürfen zusätzlich zu den mit dem Buzzer geherzten drei Acts weiter ins Semifinale. Also ein richtig harter Schnitt, der richtig viele enttäuschte Gesichter auf dem Küniglberg hinterlässt. Nicht etwa eine Halbierung des Feldes ist das, nein, eine Fünftelung!
Nur das Ashleighs Junior Team, eine zugegeben ganz okaye Tänzerinnentruppe, darf noch weiter. Und Anja und Jana Starlinger mit ihrer wunderbaren Ballade „Z’sammhalten“. Missy May, die beim ersten Anblick der Zwillinge mit "Hanni und Nanni?" kommentiert hatte, war während der Performance zu Tränen gerührt. Sie sieht in dem Auftritt das ideale Lied zur Zeit.
Aber ansonsten sind die Kriterien fürs Weiterkommen schwer zu durchschauen. Die zwölfjährige Maya Florentina Filimon, die mit Puccinis Bravourarie „O mio babbino caro“ brillierte, ist zum Beispiel von allen Juroren abgefeiert worden und muss dennoch die Segel streichen.
Unnötige Verschwendung
Diese Zeit hat tatsächlich gute Unterhaltung und eine positive Stimmung sehr notwendig. Dass hier so viele Talente, mit denen manche der Zuseher vielleicht schon eine Verbindung aufgenommen haben, gleich nach dem ersten Auftritt wieder nach Hause geschickt werden, ist leider eine unnötige Verschwendung.
Aus dem Versprechen einer "großen" wird so nur eine "kleine Chance", um sein Talent richtig zeigen zu können.