Neue Weltlage nach Corona: "Bisher war Trump immer schuld"
Von Peter Temel
*Disclaimer: Das TV-Tagebuch ist eine streng subjektive Zusammenfassung des TV-Abends.*
In einem in jeder Hinsicht außergewöhnlichen Jahr hat die-Corona-Pandemie zahlreiche weltpolitische Konflikte in den Schatten gestellt. In der ORF-Diskussionssendung "Im Zentrum“ sollte die Ausgangslage für die Nach-Corona-Weltordnung beleuchtet werden.
Man kann eines vorweg nehmen: Auf der in der Debatte skizzierten Weltbühne fehlten Akteure wie Russland und Türkei fast zur Gänze. Die Lage im Nahen Osten und die Probleme mit dem Iran waren ebenfalls kein Thema. Moderatorin Claudia Reiterer konzentrierte sich eher auf die Frage, inwieweit sich die durch den Verlust des Vereinigten Königreichs geschwächte EU zwischen den Supermächten China und USA behaupten können werde.
Daher standen zunächst die fast schon gescheiterten Verhandlungen um die künftigen Beziehungen zwischen EU und Großbritannien im Zentrum.
Letzte Post-Brexit-Verhandlungen: Edtstadler pessimistisch
Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) sieht die Chancen auf einen Post-Brexit-Handelspakt schwinden. "Je länger das dauert, desto wahrscheinlicher wird es, dass es keine Einigung geben wird", sagte Edtstadler. Das könne man „nicht schönreden“, auch wenn Verhandlungen auf EU-Ebene immer in letzter Minute entschieden würden. Es sei wichtig, dass die 27 EU-Staaten "zusammenhalten" und ihren Verhandlern "den Rücken stärken", betont sie.
Ebenfalls zu Gast ist der deutsche Ex-Außenminister, Ex-Vizekanzler und Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel. Er zeigt sich "nach wie vor einigermaßen optimistisch" und nennt den bevorstehenden Machtwechsel in den USA als Grund. Der britische Premierminister Boris Johnson habe nämlich auf eine Fortsetzung der Ära Trump gehofft, was seine Verhandlungsposition gestärkt hätte, analysiert Gabriel.
Der künftige demokratische US-Präsident Joe Biden werde nämlich keine Mehrheiten für neue Freihandelsabkommen bekommen und daher auch mit Großbritannien so bald keines schließen, ist Gabriel überzeugt. Daher sei der Druck auf den britischen Premierminister Boris Johnson "sehr groß", doch noch eine Verständigung mit der EU zu finden. "Ich hoffe doch, dass das reine ökonomische Interesse am Ende siegt", sagt Gabriel.
„An wen geht jetzt die Frage?“
Ob sich auch die Machtverhältnisse innerhalb Europas nun mehr in Richtung Frankreich verschieben könnten, will Reiterer jetzt wissen.
„An wen geht jetzt die Frage?“ - der zugeschaltete Ex-Politiker vergewissert sich, ob er noch an der Reihe ist, und macht dann weiter mit seiner ziemlich geschliffenen Analyse.
In erster Linie bedeute der Abgang Großbritanniens eine dramatische Schwächung für Europa, sagt Gabriel. Der Rest der Welt denke sich „Kuck mal, die machen uns immer Vorschläge, was wir in der Welt tun sollen, und können nicht einmal ihren eigenen Laden zusammenhalten.“
Frankreich habe Bauchkrämpfe dabei, dass in den letzten Jahren Deutschland sowohl die ökonomische als auch die politische Führungsrolle innerhalb der EU übernommen habe. Das würde Macron gerne korrigieren, meint Gabriel. Frankreich könne sich ein kleineres Europa vorstellen, das schneller handelt und die Osteuropäer außen vor lässt, während Deutschland seine Rolle weiterhin als Mittler zwischen Ost und West sehe.
Dass sich Frankreich durch den frankophilen designierten US-Außenminister Anthony Blinken gewissermaßen eine Pole Position bei Joe Biden erhofft, skizziert dann ORF-Korrespondentin Hannelore Veit, die aus Washington zugeschaltet ist.
"Impfe und herrsche?"
Zentraler wird aber nun die Rolle Chinas besprochen. Nach dem von der Zeit ausgerufenen Motto „Impfe und herrsche“ habe nun ein Wettlauf eingesetzt, wer schneller aus der Wirtschaftsmalaise herauskomme.
Ostasien-Expertin Susanne Weigelin-Schwiedrzik bestätigt, dass sich China hier selbst schon sehr weit sehe. Die chinesische Propaganda arbeite in die Richtung, dass die USA die Coronakrise nicht im Griff habe und daher „eine Macht auf dem absteigenden Ast“ seien.
Auf die Impfung setze China in der Coronabekämpfung gar nicht so stark, und das aus einem ganz einfachen Grund: Man sei auch nicht schneller als die USA oder Europa gewesen, daher wird der Ball in diesem Punkt eher flach gehalten.
Gepflegter Meinungsaustausch
Der Brexit bereite den Chinesen nur Kopfschütteln, sagt Weigelin-Schwiedrzik, nach dem Motto: „Tja, so sind die Europäer, dass sie nicht einmal ihre eigenen Sachen in Ordnung haben.“ Sie stößt damit ins selbe Horn wie Gabriel. Überhaupt wird an diesem Abend oft die Position des anderen bestätigt, Meinungsunterschiede treten praktisch nicht auf.
China habe es jedenfalls immer vorgezogen, mit einzelnen Staaten zu verhandeln und nicht mit der gesamten EU, sagt die Expertin. Zum Beispiel wolle man nun verstärkt mit den Briten kooperieren.
Das klingt dann mehr nach dem historischen Konzept „teile und herrsche“.
Die EU sei für China „ein ungeliebter Partner“, weil man nicht wisse, wie man mit dem multilateralen Staatengebilde umgehen soll, sagt Weigelin-Schwiedrzik.
Edtstadler bricht in diesem Fall eine Lanze für Europa: Die EU bestehe eben aus Demokratien und habe Rechtstaatlichkeit und Menschenrechte. Daher sei so ein „Belächeln“ aus China zu relativieren. Die derzeit betriebene gemeinsame Beschaffung von Impfstoffen in der EU mache Hoffnung, das zeige Zusammenhalt. Europa müsse diesen Weg weitergehen, weil sonst China mehr Einfluss bekomme, bekräftigt die Ministerin, die darin eine „Gefahr“ sieht.
Was kommt mit Biden?
Hannelore Veit erklärt dann, warum die Wahlmänner in den USA halten werden und Joe Biden Präsident sein werde, „egal was Donald Trump macht“. „America first“ werde in dem Sinn erhalten bleiben, dass die USA den Führungsanspruch stellen wird, aber nicht „America alone“. Europa dürfe auf mehr Zusammenarbeit hoffen, wenngleich der Fokus weiterhin auf China und dem pazifischen Raum liegen werde.
Gabriel warnt vor falschen Hoffnungen im Zusammenhang mit dem Abschied von Trump. "Ich glaube, dass jetzt eine sehr unbequeme Zeit für Europa beginnt", sagt er. Bisher habe man mit Trump nämlich "immer einen Schuldigen gehabt" und die eigenen Hausaufgaben daher nicht machen müssen.
Weil sich die USA auch unter Biden stärker Asien zuwenden werden, werde Europa "ein Teil des Vakuums füllen müssen", sagte Gabriel. Bisher hätten das durch einen US-Rückzug entstandene Vakuum "immer sofort" autoritäre Staaten wie der Iran, die Türkei oder Russland gefüllt. "Die einzigen, die da nie dabei sind, sind die Europäer", beklagt der Ex-Außenminister.
China hätte mit Trump leben können
Was die USA betrifft, hätte auch China eine Fortsetzung der Trump-Amtszeit favorisiert, sagt Weigelin-Schwiedrzik. Die Demokraten würden sogar eine härtere Linie gegenüber China verfolgen als Trump. In Taiwan würden manche Experten die Gefahr einer bewaffneten Konfrontation sehen, wobei sich das wieder „abgekühlt“ habe.
"Wir müssen als Europa schauen, wo wir bleiben. Wir müssen uns aufstellen", bekräftigte Edtstadler ihre Forderung nach einer Einführung von Mehrheitsentscheidungen in außenpolitischen Fragen. So könne Europa ein globaler Player werden und sich etwa auch China entgegenstellen, das "versucht, Abhängigkeiten zu schaffen“.
Zuerst die Hauptspeise
China sei bekannt dafür „die Hauptspeise vor der Vorspeise“ zu essen, erklärte Edtstadler. Da würden innovative Dinge im großen Stil umgesetzt, aber ohne davor Dinge wie Datenschutz oder Menschenrechte zu berücksichtigen.
Eine "Entkoppelung" von einem Milliardenvolk wie China "wird nicht gehen", sagt Gabriel, „die Ansprüche muss man erst mal akzeptieren“. Er plädiert daher für eine gemeinsame Haltung Europas, den USA und ihrer pazifischen Verbünden gegenüber China. Wobei Staaten wie Australien teilweise mit dem „Erzfeind“ China paktieren, weil aus den USA zuletzt auch viel Ungewissheit vermittelt worden sei und sie „dem Braten nicht so recht trauen“.
Länder wie Deutschland oder Österreich seien jedenfalls als "exportabhängige Nationen auf internationale Arbeitsteilung angewiesen“.
Doch noch Russland
Das Stichwort Russland fällt übrigens sehr spät in der Diskussion. China begrüße es, wenn sich Russland von der EU entfernt, „um sich anzunähern“, sagt Moderatorin Reiterer. Weigelin-Schwiedrzik bestätigt das. Ein Zusammenspiel Russlands und Chinas könnte überhaupt einen „ungeheuren Machtfaktor im weltpolitischen Zusammenspiel“ ergeben. Weil die beiden aus einer gewissen Isolation agierenden Großmächte einander in ihren Fähigkeiten gut ergänzen könnten. Ein Gegengewicht dazu wäre schwer aufzubauen.
Die Kräfteverhältnisse innerhalb der Kommunistischen Partei Chinas seien zudem „noch nicht entschieden“, sagt die Expertin von der Uni Wien. Eine zunehmende Isolierung der Volksrepublik könnte jene Kräfte stärken, die die gegenwärtige pandemiebedingte Schwächephase der westlichen Industriestaaten nützen wollen, um mit den Muskeln zu spielen. Gefährlicherweise auch mit militärischen Mitteln.
Die Corona-Krise erscheint also in dieser kompetent und kultiviert geführten Diskussion als Katalysator für weltpolitische Entwicklungen, die nicht zwangsläufig zu einer besseren Welt führen.
„Reden Sie darüber,“ sagt Reiterer am Schluss, „Sie wissen, dass ich das am Schluss der Sendung immer sage.“
Sigmar Gabriels Redebedürfnis ist offenbar aber vorerst gestillt. Noch auf Sendung kappt er die Verbindung nach Wien und hinterlässt einen schwarzen Monitor.