Kultur

Martin Walser: Die Helligkeit tut gut

Mit Verlaub: Wenn ein 84-Jähriger über einen Typen schreibt, der sich einbildet, seine Mutter habe ihn ohne Hilfe eines Mannes zur Welt gebracht (ein moderner Jesus also) ... dann wird man nicht unbedingt gleich alles liegen und stehen lassen, um sich aufs Buch zu stürzen.

Es sei denn, man hat im Vorjahr "Mein Jenseits" gelesen: der ausgekoppelte und zur Novelle gewordene dritte Abschnitt des gestern erschienenen Romans "Muttersohn", an dem Martin Walser damals arbeitete.
"Mein Jenseits" ist eines der schönsten Bücher Walsers geworden. Sehr konzentriert. Kaum eine der gefürchteten Blasen weit und breit.
Sein Bekenntnis, auf Berge zu steigen, die es gar nicht gibt. Denn die Zeit des Wissenwollens ist vorbei, hat er uns mithilfe von Augustin Feinlein eingetrichtert.
Feinlein ist Chefarzt eines psychiatrischen Spitals und geht auf die 70 zu. Die Frau, die er liebt, hat er niemals bekommen. Er hat nur einen Zettel von ihr:
IN LIEBE, Eva Maria.
Das heißt zwar überhaupt nichts, aber für ihn ist der Zettel eine Reliquie. Wie das Blut Christi oder das Knöchelchen eines Heiligen.
Glauben, was nicht ist.
Dass es sei.

Erleichterung und viel Licht

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Im fertigen Roman ruht Feinleins Schicksal inmitten von Percys Geschichte. Percy ist Pfleger. Feinlein war sein Lehrer, auch im Orgelspiel. Früher war das Spital nämlich ein Kloster. Man stelle es sich wie das Vorzimmer zum Himmel vor. Die Insassen melken Kühe, reiten, backen Brot, schweigen, wenn ihnen zum Schweigen ist.
Percy, 30, kümmert sich um die Gemeingefährlichen.
Er bringt Erleichterung. Alle fühlen sich leichter, ist er bei ihnen. Und emporgehoben fühlen sich alle. Auch der Friseur ist ganz glücklich, wenn er Haare schneiden kommt.
Percy ist "geleitet". Das hat ihm seine Mutter, genannt Mutter Fini, gesagt. Die war auch "geleitet". Die hat ihm eingeredet, bei der Zeugung keinen Mann gebraucht zu haben. Eine starke, religiöse Frau.

Martin Walser hat nun viel Platz. 500 Seiten minus jener 80 Seiten "Mein Jenseits". Oft kommt er uns lateinisch, gern zitiert er, und gern schreibt er so, dass man ihn zitieren muss.
Dürfen wir etwas nicht glauben, weil andere nicht daran glauben wollen oder können? - so fragt er.
Glaube ist eine Begabung, so sagt er.
Sein Percy ist kein Unangenehmer, der bekehren will. Er ist nur von Mutter Fini derart "befestigt" worden, dass ihn niemand mehr aus seinem Selbst vertreiben kann. Bei ihm ist 2 + 2 halt nicht 4. Hauptsache, er tut Gutes. Das gilt auch für das Buch: Es nervt. Aber die Helligkeit tut gut.

Es passiert ja kaum etwas. Percy wird langsam berühmt. Er sucht (s)einen Vater bzw. Gott. Er will sogar Augustus Feinlein als Vater adoptieren. Er ist süß. Walser schafft durch ihn viel Licht.
Er schafft auch einiges an Verwirrung -, was ihm gewiss egal ist: Längst schreibt er für sich. Schreibt und schreibt, bis er - hat er dem Stern gegenüber gesagt - seinen Todeszeitpunkt festlegt und sich in der Schweiz eine Spritze geben lässt.

KURIER-Wertung: ***** von *****