Kulturkampf: Vergiftetes Klima
Von Georg Leyrer
Es ist ein erstaunliches Phänomen: Obwohl es im derzeitigen Zeitenwandel keinen Mangel an Krisen gibt (siehe all diese Seiten), verbeißen sich die Menschen lieber in Scheinprobleme – und das mit einer Wut und einer Gnadenlosigkeit, die an den Grundfesten des Demokratischen rührt. Nichts wird so heiß, so zornig und verbittert debattiert wie Gendern, Lastenräder, die Transsexualität und der Fleischkonsum und all die anderen Talking Points des sogenannten Kulturkampfes.
Die Welt kann untergehen, aber wir werden währenddessen streiten, ob wir mit dem Verbrennermotor in den Sonnenuntergang fahren.
Man könnte das beiseitewischen als Beschäftigungstherapie auf den sozialen Medien oder als Ersatzhandlung, die einem erspart, sich mit den wirklichen Problemen zu beschäftigen. Leider passiert hier viel mehr – nämlich eine permanente Zerrüttung eines Gefüges, das für das Gedeihen jedes demokratischen Staates bisher essenziell war.
In dem gab es nämlich zwei Kräfte in einem Wechselspiel: Die Progressiven versuchten, den Staat voranzubringen, Frauen- und Minderheitenrechte und ähnliche Reformen voranzutreiben. Derartige Erneuerung ist, auch wenn man im Detail nicht an Bord ist, unabdingbar.
Die Konservativen wiederum sorgten dafür, dass diese Reformen in einem sozial verträglichen Tempo in die Gesellschaft einmassiert wurden: Sie stemmten sich gegen übereilten Fortschritt, verhinderten ihn aber nicht.
Doch dieses Gefüge ist zerbrochen. Eine extreme Gruppe an Progressiven – subsumiert unter dem Namen Woke – hat den Fortschrittsdiskurs an sich gerissen und ihn auf kompromisslos gegen die Konservativen ausgespielte Sprech- und Meinungstabus zusammengestutzt. Es geht hier nicht um Fortschritt, sondern um Sprachmacht.
Die Konservativen wiederum haben die Handvoll wirklich Woken als Strohmannargument für eine Selbstradikalisierung genützt: Sie haben sich von ihrer Aufgabe im Reformprozess verabschiedet und verweigern nun mit Verweis auf die apodiktischen Woken jeden gesellschaftlichen Fortschritt als linkes Diktat.
In die Lücke stoßen die Rechtspopulisten: Sie nützen die Gunst der Stunde, dass nämlich Reformbestrebungen politisch vergiftet wurden, um die Uhr sogar zurückzudrehen. Etwa bei den Frauen- und Minderheitenrechten, bei der außenpolitischen Positionierung vor allem in Richtung Russland und bei der Zähmung des Faschismus.
Geschwächt
Heraus kommen westliche Demokratien, die grundlegend geschwächt sind: Die Wähler wollen sich der Zumutungen des modernen Lebens dadurch entledigen, dass sie jene wählen, die so tun, als gäbe es all diese Probleme – Klimawandel, russische Desinformation, weltweite Migration – nicht. Man versucht, das unkomplizierte Leben von früher herbeizuwählen, als man noch nicht mit dem Gedanken belastet war, dass manche Wörter und eventuell sogar manche Kinderbücher eigentlich unerträglich sind.
Dafür sind die Sprachdiktate der Linken ein willkommener Vorwand. Dass die woke Bewegung inzwischen längst inhaltlich entwertet wurde, spielt dabei keine Rolle: Der Kampf gegen Sprachzwänge und vermeintliche gesellschaftliche Diktate – Stichwort Mobilitätswechsel, Energiewende und Unisex-Klos – emotionalisiert die Wählerschaft anhaltend. Klar ist: Die großen gesellschaftlichen Fortschritte von früher wären in dieser Atmosphäre heute nicht mehr möglich.