Kultur

Ein Mosaik der Familie

Katja Petrowskajas Muttersprache ist Russisch, nicht Deutsch. Sie hat erst mit Mitte 20 Deutsch gelernt. Vielleicht ist das der Grund, warum ihre Sprache so wohlüberlegt wirkt. Und dabei so fein und klar. Vielleicht denken Menschen, denen eine Sprache nicht selbstverständlich ist, mehr über sie nach.

Und schmunzeln über fremde Sprachbilder. Wir erfahren hier etwa, wie man auf Russisch zu jemandem sagt, der nicht alle Tassen im Schrank hat: "Er hat nicht alle zu Hause."

Petrowskaja, 1970 in Kiew geboren, lebt seit 1999 in Berlin, wo sie als Journalistin arbeitet (auch als Kolumnistin für die FAZ). Voriges Jahr hat sie den Bachmannpreis für einen Auszug aus ihrem nun erschienenen Buch "Vielleicht Esther" erhalten.

Man kann dieses Buch nicht uneingeschränkt empfehlen, und dennoch muss man es dringend ans Herz legen, denn es ist nicht makellos, aber wunderschön. Es ist ein Porträt, vielmehr ein Mosaik ihrer Familie. Einer in vieler Hinsicht glücklichen, und doch individuellen Familie – Petrowskaja empört sich über Tolstois Diktum, demzufolge alle glücklichen Familien einander ähnelten. Als ob einzig das Unglück ein Anrecht auf Individualität habe!

Alte Kisten

Doch auch Unglück gibt es einiges in diesem "Familienalbum". Die Erzählerin habe sich unter Stammbaum stets einen Tannenbaum, "mit Schmuck aus alten Kisten" vorgestellt. Allein: Der Tannenbaum daheim wurde "jedes Jahr weggeschmissen. "

Und so beginnt der Blick auf das, was man Familie nennt, zunächst als zaghafte Skizze. Samt Familienfotos, etwa von der schönen Tante Lida und ihren Rezepten. Eines davon, für ein Gebräu aus Salat, Knoblauch und Dill, ist hier nachzulesen. Im selben pathetischen Ton, in dem es Tante Lida schrieb: "Den Dill sollst du waschen ..." Eine zärtlich-komische, doch melancholische Episode über die schöne Tante, die irgendwann verstummte.

Nachlässige Routine

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Petrowskajas bevorzugtes Stilmittel ist die Lakonie. Ist sie ein Schutzschild gegen den unsagbar Schreckliche?

Die Urgroßmutter – sie hieß "vielleicht Esther", die hat man "mit nachlässiger Routine" erschossen, als sie sich vertrauensvoll an Soldaten wandte. Sie wollte sich pflichtbewusst nach Babij Jar aufmachen, einer Schlucht bei Kiew, wo man die Juden erschossen hat. Weil sie so dumm gefragt hat, hat man sie gleich erschossen.

Ortwechsel nach Österreich, auf den Spuren des Großvaters, der Mauthausen überlebt hat: "Es ist neun Minuten vor zwölf, als ich in Mauthausen anrufe (...) Ich rufe nicht jeden Tag im KZ an."

Man kann das als unpassend empfinden und man kann auch das gleichzeitig häufige Hinterfragen des scheinbar Beiläufigen zu viel finden. Etwa zu Beginn, die Sache mit Bombardier. Am Bahnhof in Berlin steht ein alter Mann und weiß nicht, was die Lettern "Bombardier" bedeuten, sie erinnerten ihn an Bomben. Die Erzählerin behauptet, es handle sich um ein französisches Musical. Man darf sich fragen, ob die Firma Bombardier das viele Nachdenken wert ist.

Was zählt, sind eindringliche Minidramen wie jenes von Großmutter Rosa, "die auf ihren Mann wartete, länger als Penelope"... Großvater Wassili war erst nach 41 Jahren aus dem Krieg zurückgekehrt. Sie habe ihm seine lange Wanderung nie verziehen aber man sagt, sie haben sich geküsst, am Kiosk, da waren sie beide über siebzig.

Zwischen solchen erzählerischen Kleinoden erkennt man auch die Handschrift der Kolumnistin, die auf eine Pointe zuschreibt. Die Reise auf den Spuren der Erinnerung endet in Wien. Otto von Habsburg war gerade gestorben, die Zeitungen berichteten über das Ende des alten Europa. "Otto von Habsburgs Begräbnis habe ich verpasst, wie auch das angekündigte Ende Europas."

KURIER-Wertung: