Salzburger Festspiele: „Wir müssen zum Nachdenken auffordern“
KURIER: Frau Präsidentin, es gab einen Schauspieldirektor, der Ihnen vor 20 Jahren an die Gurgel wollte (Frank Baumbauer, Anm.). Mit Markus Hinterhäuser scheinen Sie sich prächtig zu verstehen.
Helga : Also, das trifft mich schon, dass Sie mich an etwas aus dem Jahr 1998 erinnern! Ein Teil meines Erfolges ist, dass ich in der Gegenwart lebe. Die Gegenwart ist mit diesem Intendanten hinreißend!
Gibt es nie eine Meinungsverschiedenheit? Der Intendant wird vielleicht das Budget strapazieren wollen – und muss in Schranken gewiesen werden.
Rabl-Stadler: Sieben Jahre lang war ich auch für die Finanzen zuständig. Ich weiß gar nicht, wie ich diese Zeit überlebt habe. Zum Glück haben wir seit April 2017 Lukas Crepaz, der in einer künstlerischen Familie aufgewachsen ist, als kaufmännischen Direktor. Ich muss Sie daher enttäuschen: Zwischen uns drei hat es noch nie einen Krach gegeben.
Markus Hinterhäuser: Ich folge dem Wirklichkeits- und Möglichkeitssinn von Robert Musil. Ich bewege mich nicht im luftleeren Raum, sondern kann recht gut einschätzen, was realistisch ist. Daher habe ich bis jetzt noch keinerlei Einschränkungen erfahren. Das, was man in Salzburg machen kann, ist ohnedies vergleichslos großzügig. Jetzt muss ich wieder die Präsidentin loben …
Rabl-Stadler: Das kannst ruhig machen! Damit ich das wieder vergesse, was vor 20 Jahren passiert ist.
Hinterhäuser: Dann ist ja dieses Interview eine halbe Therapiesitzung! Wenn man die Funktion einer Präsidentin auch an ihrer Solidarität und Loyalität misst, kann ich nur sagen: Es ist prachtvoll. Aber ich brauche auch diese Unterstützung. Denn die Menschen kommen nicht hierher, um Einschränkungen wahrzunehmen. Nein, die Salzburger Festspiele sind ein großes Festspiel der Künste. Schwierigkeiten tauchen nur auf, wenn gleichzeitig fünf Opern geprobt werden. Dann ist der Intendant eine Mischung aus Organisator, Ermöglicher, Psychoanalytiker, Beschwichtiger…
Rabl-Stadler: Dompteur!
Hinterhäuser: Ja, auch. Noch etwas ist wichtig: Dass wir uns untereinander verstehen. Denn eine schlechte Stimmung – Konflikte, Divergenzen, Spannungen – würde sich sehr schnell auf das Publikum übertragen. Aber das ist keine gespielte Harmonie zwischen uns, es ist tatsächlich sehr, sehr schön – seit dem 1. Oktober 2016, als ich hier als Intendant angefangen habe.
War das auch so vor dem Beginn Ihrer ersten Festspiele? Danach, im Herbst 2017, signalisierten Sie Erleichterung.
Hinterhäuser: Nein, ich habe mir keine Sorgen gemacht. Denn es war eine Zusammenkunft von Künstlern, deren Arbeitsweise ich sehr gut kenne: William Kentridge, Peter Sellars, Simon Stone und so weiter. Ich konnte mir also ziemlich sicher sein, dass die Festspiele gut ausgehen werden. Und ich habe großes Glück gehabt. Bis auf ganz wenige Ausnahmen hat alles funktioniert. Glück ist leider nicht abrufbar.
Eine der Ausnahmen war „Jedermann“?
Hinterhäuser: Der „Jedermann“ ist, wie Sie wissen, sehr schnell entstanden – aufgrund einer nicht unkomplizierten Vorgeschichte. Ein fertiges Ergebnis zu erwarten, wäre ein bisschen viel verlangt gewesen. Michael Sturminger hat an der Inszenierung intensiv weitergearbeitet.
Rabl-Stadler: Und Tobias Moretti hat sich wieder mit großer Freude in die Probenarbeit gestürzt. Dieser „Jedermann“ gibt jetzt zu den schönsten Hoffnungen Anlass. Vielleicht spielen wir ihn auch 2020 zum 100-Jahr-Jubiläum.
Sie könnten ihn durch eine „Jedermann“-Neudichtung ergänzen. Immer wieder wurde mit der Idee gespielt – nun ist Ihnen die Burg mit der Uraufführung „jedermann (stirbt)“ von Ferdinand Schmalz zuvorgekommen …
Rabl-Stadler: Eigentlich sollte ich zum „Jedermann“ gar nichts sagen. Denn ausgelöst hat die „An-die-Gurgel-gehen“-Attacke die Frage eines Journalisten, ob es einen neuen „Jedermann“ geben wird.
Hinterhäuser: Nein, wir lassen den „Jedermann“ nicht neu schreiben, wir bleiben bei Hugo von Hofmannsthal – und werden weiter untersuchen, ob der Text seine Daseinsberechtigung hat. Er hat sie, meiner Meinung nach. Das Stück ist unendlich viel besser als die Klischees, die man ständig bemüht.
Die diesjährigen Schlagworte sind „Passion, Ekstase, Leidenschaft“. Haben Sie sich nicht vehement gegen Mottos ausgesprochen?
Hinterhäuser: Das stimmt. Ich kann ein so großes Konstrukt wie die Festspiele mit sechs Opern, fünf Schauspielproduktionen und 98 Konzerten nicht unter ein Motto zwingen. Diese Begriffe sind nur Hinweise. Denn es geht natürlich in „Pique Dame“, „Salome“, „Poppea“ und in der Ouverture spirituelle um Passion und Leidenschaft. Und eines möchte ich wirklich nicht erwecken: den Eindruck, dass es sich um eine zufällige Aneinanderreihung von Veranstaltungen handeln könnte.
Rabl-Stadler: Eine gern gebrauchte Todeskeule war immer das Wort „Beliebigkeit“. Weil wir eben nicht einem einzigen Künstler verpflichtet sind, wie Bayreuth Richard Wagner, sondern weil unser Gründungsauftrag weiter gefasst ist: Oper und Theater – von beidem das Höchste, in die heutige Sprache übersetzt das Beste. Und das hat Markus letztes Jahr unter Beweis gestellt, auch wenn der Bogen von „Titus“ bis „Aida“ gespannt hat. Wenn die Qualität stimmt, dann sind die Festspiele nicht beliebig. Ich hoffe, dass uns das auch heuer gelingt.
Hinterhäuser: Einen überwiegenden Teil der Konzerte werden Sie daher nur in Salzburg erleben können. Wir machen zum Beispiel alle Beethoven-Symphonien mit Teodor Currentzis. Oder: Daniil Trifonov wird zum ersten Mal das Tschaikowski-Klaviertrio spielen. Ein gewaltiges Kammermusikwerk! Und vier der fünf Programme der Wiener Philharmoniker sind exklusiv, genauso wie die gesamte Ouverture spirituelle. Ich kann diese Exklusivität zwar nicht bei jedem Konzert erfüllen. Aber ich vermittle, dass die Festspiele keine Abspielstation sind.
Gilt der Anspruch auch fürs Schauspiel? Es gibt zwei Stücke mit je zwei Rollen, die „Perser“ und einen Frank Castorf. Fehlt nicht so etwas wie „Schlachten!“oder „Das Spiel der Mächtigen“?
Hinterhäuser: Warten wir doch ab! Es wird einen unglaublich starken Blick auf „Penthesilea“ geben. Ulrich Rasche wird mit den „Persern“ eine Riesen-Geschichte machen! Und einen derart gewaltigen Roman wie „Hunger“ zu dramatisieren: Das ist eine große Aufgabe! Ja, „Das Spiel der Mächtigen“ war ein Markstein, überhaupt keine Frage. Aber die Theaterwelt hat sich gewandelt, das System hat sich verändert – und auch die Ästhetik.
Frau Präsidentin, stimmen Sie Frank Castorf zu, der sagte, dass Frauen nicht Fußball spielen und nicht Regie führen könnten?
Rabl-Stadler: Das war eine Bemerkung, die ich im Jahr 2018 für nicht mehr möglich gehalten hätte. Ich möchte aber über Castorf nur als Regisseur von „Hunger“ diskutieren.
Aber auch die Festspiele haben keinen Überfluss an Regisseurinnen.
Rabl-Stadler: Seid’s mir nicht böse. Weder ist Markus ein Macho noch Bettina Hering, die Schauspielleiterin, ein Hascherl. Sie hat letztes Jahr sogar besonders viele Frauen im Programm gehabt!
Hinterhäuser: Heuer wird „Die Zauberflöte“ von einer Frau, von Lydia Steier, inszeniert. Und vielleicht wird es irgendwann ein Jahr nur mit Regisseurinnen geben. Aber prinzipiell geht es mir darum, eine spannende Konstellation für eine Oper zu finden. Ich kann ein Programm nicht nach geschlechtsspezifischen Parametern konstruieren.
Die diesjährigen Opernvorstellungen sollen praktisch ausverkauft sein.
Rabl-Stadler: Ja, es stimmt, lange vor Festspielbeginn. Das habe ich in 23 Jahren noch nicht erlebt.
Sie könnten, wenn man sich die absurden Schwarzmarktpreise ansieht, viel mehr verlangen. Sollte man nicht eine variable Preisgestaltung einführen?
Rabl-Stadler: Das wird immer wieder an uns herangetragen, aber wir denken derzeit nicht daran.
Hinterhäuser: Je später man bucht, desto teurer wird es? Nein. Wir sind ja keine Fluggesellschaft! Ich finde unser Angebot mit fixen Preisen, gestaffelt nach Kategorien, völlig okay. Und: Ich bin sehr gegen eine Exklusivität in dem Sinne, dass nur wenige Menschen, eben jene mit Geld, Zugang haben.
Sparen Sie schon etwas an für das Jubiläumsjahr 2020?
Rabl-Stadler: Nein. Aber ich hoffe natürlich, dass ich für 2020 zusätzliche Sponsoren bekomme – für eine, wie Markus sagt, „Ummantelung“. Wir werden zum Beispiel Symposien konzipieren, wir wollen auch mehr für die Salzburger machen.
Im Herbst 2020 wollen Sie aufhören. Das soll doch ein besonderer Abgang sein – und nicht nur eine „Ummantelung“. Im Mozartjahr gab es alle Opern.
Rabl-Stadler: Der 22. August soll ein ganz Besonderer werden. Denn an diesem Tag des Jahres 1920 hat mit dem „Jedermann“ alles begonnen.
Hinterhäuser: Im Rahmen der „Ummantelung“ wird unendlich viel passieren. 100 Jahre Salzburger Festspiele heißt ja, dass es eine unfassbare Tradition gibt, die es zu bewältigen gilt. Mit der Rückschau alleine wäre es aber nicht getan. Wir müssen eine Form finden, um Fragen wie diese zu behandeln: Was bedeutet die Gründungsformel heute? In welcher sozialen Situation sind die Festspiele entstanden? Warum sind sie entstanden?
Rabl-Stadler: Als „Friedensprojekt“ nach dem Ersten Weltkrieg.
Hinterhäuser: Das war eine visionäre Entscheidung. Und jetzt sind wir in einer anderen politischen Weltsituation. Wohin bewegen wir uns mit dem, was wir Kultur nennen? In einer Gesellschaft, die mit Kultur immer weniger anzufangen weiß und für immer nichtiger erklärt? Wenn die Festspielidee kein Anachronismus sein, sondern Vitalität haben soll, dann müssen wir versuchen, Antworten zu geben.
Haben Sie schon welche?
Hinterhäuser: Nein. Wir haben es mit einem viel zu umfassenden Phänomen zu tun. Als Festspiele können wir nichts anderes tun, als die Kunst in Bezug zur Gegenwart zu setzen. Wir müssen zum Nachdenken auffordern. Auch wenn Nachdenken nicht angesagt ist. Vielleicht wird es wirklich in zwei Generationen so weit sein, dass niemand mehr weiß, wer Hölderlin war. Vielleicht wird diese Kultur, für die wir stehen, genauso aussterben wie die Mayakultur. Aber ich möchte hier keinen Pessimismus formulieren.
Rabl-Stadler: Pessimismus nicht, Skepsis schon. Es gehen so viele Leute ins Theater, ins Konzert und ins Museum wie nie zuvor. Unsere „Festspielnächte“ am Kapitelplatz sind das größte Public Viewing der Welt. 41 Tage lang zeigen wir Festspielproduktionen. Und die Menschen lauschen der Musik mucksmäuschenstill. Aber es gibt eine Krise der Finanzierung durch die öffentliche Hand. Wir bekommen keine Valorisierung der Subventionen. Und das Sponsoring wird immer problematischer, wenn an den Spitzen der Firmen zunehmend Menschen sitzen, die selbst nicht mehr in Oper und Theater gehen.
Hinterhäuser: Wir müssen uns bewusst sein: Wenn wir die Kultureinrichtungen, die wir haben, verlieren, werden wir sie nie wieder bekommen. So etwas wie die Salzburger Festspiele neu zu gründen: Das ist undenkbar geworden.