Interview mit Palmensieger Kore-eda Hirokazu zu "Shoplifters"
Von Alexandra Seibel
Als Kore-eda Hirokazu dieses Jahr in Cannes die Goldene Palme erhielt, war er längst kein Newcomer mehr. Im Gegenteil: Der japanische Regisseur gilt als Cannes-Veteran. Fünf seiner Filme liefen dort bereits im Wettbewerb, zwei weitere in der Nebenreihe Un Certain Regard. Trotzdem hatte der 56-jährige den Palmensieg nicht vorausgeahnt: „Meine Knie zittern“, bekannte Kore-eda, als er wackelig Richtung Jury-Präsidentin Cate Blanchett marschierte und für sein tragikomisches Familiendrama „Shoplifters – Familienbande “ (derzeit im Kino) die höchste Trophäe in Empfang nahm.
„Ich fürchte, der japanische Premier war von meinem Film nicht begeistert“, räsoniert Kore-eda Hirokazu im KURIER-Gespräch in Paris, wo er gerade seinen ersten nicht-japanischen Film mit Juliette Binoche und Catherine Deneuve dreht: „Die Regierung schätzt es nicht sonderlich, wenn über soziale Armut in Japan geredet wird.“
Tatsächlich wurde rund um die Palmen-Verleihung kolportiert, dass man ihm von offizieller Seite nicht zu seinem renommierten Preis gratuliert hätte. Was dem Erfolg von „Shoplifters“ in Japan aber keinen Abbruch tat: Dort erwies sich das hinreißende Drama als wahrer Publikumsmagnet, spielte 40,2 Millionen Dollar ein und steigerte sich zur vierterfolgreichsten heimischen Produktion des Jahres 2018.
Heute ist Kore-eda Hirokazu so etwas wie der offizielle Vertreter des japanischen Films im Weltkino. Natürlich gibt es wildere und kontroversiellere Regisseure als ihn, etwa den unberechenbaren Gewalt-Stilisten Miike Takashi oder „Tetsuo“-Kultregisseur Tsukamoto Shinya. Kore-eda gehört da vergleichsweise in die leise Abteilung. Sein Spezialgebiet: Familie. Aufgrund dieser Vorliebe für familiäre Zusammenhänge wird er gerne als Erbanwärter des großen japanischen Melodramen-Meisters Ozu Yasujirō gehandelt. Doch während sich Ozu vor allem für die Mittelschicht interessierte, wendet sich Kore-eda verstärkt den Rändern der Gesellschaft zu.
So erzählt „Shoplifters“ feinfühlig und mit Witz von einer Gruppe verarmter Menschen, die an der Peripherie Tokios in drei Generationen auf engstem Raum wie eine Familie zusammenleben, ohne verwandt zu sein. Sie halten sich mit Diebstählen im Supermarkt und gelegentlicher Sexarbeit über Wasser.
Ein kleines, vernachlässigtes Mädchen in der Nachbarschaft wird ebenfalls in den familiären Verband aufgenommen und liebevoll umsorgt. Als schließlich die „Großmutter“ stirbt, wird sie heimlich begraben, um ihre Pension weiter in die Haushaltskasse fließen zu lassen.
Ein Zeitungsartikel, der von einem Pensionsbetrug berichtete, habe ihn zu „Shoplifters“ inspiriert, erzählt Kore-eda: „Zeitgenössische soziale Probleme werden in japanischen Filmen gerne vernachlässigt“, so der Regisseur über den klaffenden Klassengegensatz innerhalb der japanischen Gesellschaft: „Ich habe mich auch schon in früheren Filme und in meinen Fernseharbeiten mit diesen Thematiken beschäftigt.“
Vertauschte Kinder
Gleichzeitig stellt Kore-eda auch immer wieder das in Japan ganz besonders wichtige Konzept der traditionellen Kernfamilie infrage. „Like Father, like Son“ (2013) erzählt von zwei sehr unterschiedlichen Familien, die plötzlich entdecken, dass ihre Söhne bei der Geburt vertauscht wurden. Der geplante „Rücktausch“ der Buben bringt das Konzept von biologischer Elternschaft schmerzhaft ins Wanken: „Nach diesem Film habe ich begonnen, über Familienbande jenseits der Blutsverwandtschaft nachzudenken“, sagt Kore-eda: „In ‚Shoplifters‘ sind die Menschen durch ihre kriminellen Taten verbunden – zumindest von außen betrachtet. In meinen Augen gibt es sehr verschiedene Formen von Familie, und diese Patchwork-Familie ist eine davon.“
Ihn selbst beschäftige das Familienthema auch persönlich, umso mehr, als er seine Eltern verloren und dann selbst eine Familie gegründet habe: „Wenn die Eltern tot sind und man kein Kind von jemandem mehr ist, verändert das die eigene Position. Als ich selbst Vater wurde, habe ich viel darüber nachgedacht, was es bedeutet, eine Familie zu gründen. Und diese Überlegungen haben mich auch zu ‚Shoplifters‘ inspiriert.“
Auch das kleine, vernachlässigte Mädchen in „Shoplifters“ ist eine Art Wiedergängerin aus Kore-edas früherem Werk: In „Nobody Knows“ (2004) erzählte er von einer Gruppe Kinder, die in einer Wohnung in Tokio von ihrer Mutter zurückgelassen werden und sich praktisch selbst aufziehen müssen: „Zu dem Zeitpunkt, als ich diesen Film drehte, gab es in Japan den Begriff Kindesvernachlässigung quasi nicht. Keiner wusste etwas darüber oder wollte etwas darüber wissen. Das Problem war unsichtbar und existierte daher nicht.“
Doch gerade darin liege sein Anliegen, sagt Kore-eda Hirokazu: Menschen ins Rampenlicht zu rücken, die üblicherweise im Dunkeln bleiben. So auch in „Shoplifters“: „Die Leute, von denen ich da berichte, haben kein ‚normales‘ soziales Leben und bleiben aus diesem Grund unsichtbar. Doch ich will sie sichtbar machen.“