Kultur

Interview mit Alexander Kluge: "Die Liebe ist ein Tausendfüßler"

KURIER: Herr Kluge, gleich zu Beginn Ihrer Ausstellung findet sich das Bild einer Spinne. Warum?

Alexander Kluge: Zunächst einmal baut eine Spinne Netze: Sie ist das Wappentier des (Inter-)Netzes. Es gibt von Ovid eine Erzählung von einer Weberin namens Arachne, die die Weltgeschichte poetisch in ihre Kleider einwebte. Sie stand im Wettstreit mit Göttin Athene – und obwohl sie mit ihren Stoffen besser erzählen konnte, wurde sie in eine Spinne verwandelt. Arachne ist mein Wappentier, weil ich an Textur glaube, an das Weben und Vernetzen. Deswegen steht sie am Anfang.

Sie haben einmal gesagt, Information, die in keinem Zusammenhang steht, tötet das Interesse. Wie stellen Sie Zusammenhänge – oder Netze – her?

Durch Beobachtung. Diese Netze sind alle in der Wirklichkeit vorhanden, und auch zwischen Menschen bestehen immer Beziehungen, also Netze. Diese mit großer Hingabe nachzuerzählen, ist das, was literarische Poeten tun. Und der Film ist ein Stück Erbe der älteren Literatur: Musik und Erzählen sind die Elemente des Films, Fotografie ist eigentlich gar nicht die Hauptsache.

Weil Sie von Filmen sprechen: Davon gibt es in Ihrer Ausstellung unglaublich viele. Wie sollen sich die Besucher durch diesen Parcours bewegen?

Sie sollen das machen, was sie auch auf der Straße machen. Da sehen sie auch viele Gesichter, nie etwas Einzelnes. Die Idee, dass ein Mensch nur ein Straßenschild oder nur das Rot einer Ampel anschaut, ist unwahr. Ein Mensch sieht sehr viel, und unsere Vorfahren, die Jäger, sahen noch mehr. Es reicht, wenn die Besucher ein bisschen von der Vielfalt in meiner Ausstellung sehen.

Grundthemen wie Liebe und Arbeit ziehen sich durch Ihre multimediale Schau. Warum vergleichen Sie etwa die Liebe mit einem Tausendfüßler?

Man kann die Liebe mit vielem vergleichen, aber kaum jemand sagt: „Die Liebe ist eine Biene.“ Oder: „Die Liebe ist ein Löwe.“ Aber der Tausendfüßler gefällt mir, weil er über die Schritte, die er macht, nicht nachdenkt – sonst würde er stolpern. So ist es mit der Liebe: Sie sieht die Schritte nicht, die sie geht, sondern vergisst sich. Darin liegt ein Stück Glück: Dass ich aus etwas herausfalle – in einen anderen Menschen.

Welche Liebesmotive finden sich noch?

Am Ende gibt es die Geschichte einer Frau, die die Geliebte eines Arbeiterführers nach 1945 ist. Der Mann macht Karriere und wird Vorstandsmitglied. Seine Frau vergisst er ganz – und im Erfolgsfall nimmt er eine Jüngere. Vor seinem Haus steht ein ganz kostbares Auto. In der Nacht geht die verlassene Frau mit einem Hämmerchen hin und hackt den ganzen Lack ab. Man sagt doch: „Der Lack ist ab.“ (lacht). Das ist eine solche Geschichte.

Sie sagen, Sie sind in dem Sinn kein Künstler – sondern ...?

Ein Kartograf. Der macht ja auch die Landschaften nicht selbst und pflanzt Bäume, sondern er kartiert sie. Das ist eine künstlerische Aufgabe eigener Art. „Das Poetische heißt Sammeln“, sagen die Brüder Grimm. Davon bin ich ein Anführer. Im 17. Jahrhundert hat man Landkarten gemalt, die aussahen wie Europa, aber da gab es die „Insel der groben Ärgernisse“, den „See der mörderischen Verzweiflung, den „Strand des Glücks“: Orte der Liebe waren wie in einer Landkarte eingezeichnet – das hat mir gut gefallen.

 

Sie haben für den österreichischen Kontext neue Filme hergestellt. Überraschenderweise findet man Bundeskanzler Sebastian Kurz unter Ihre Bildern. Wie kam es dazu?

Sebastian Kurz habe ich auf der Münchner Sicherheitskonferenz getroffen, als er noch ein junger Außenminister war. Ich sah mir längere Zeit sein Gesicht an, das noch nicht so schnell von aktiv auf passiv knipsen konnte, wie er das heute als öffentliche Person machen muss. Ich habe ihn nach dem Ersten Weltkrieg gefragt, weil er offenkundig noch sehr jung ist und so aussieht wie Leutnant Gustl (Titelfigur bei Arthur Schnitzler, Anm.) Er hat sehr intensiv darauf geantwortet und von den Erfahrungen seiner Großeltern erzählt. Da habe ich gemerkt, dass er nicht nur ein Verstandesmensch ist, sondern auch ein empathischer Mensch, der Fantasie hat. Näher am Herzen liegt mir aber meine Hommage an Friederike Mayröcker. Sie ist eine wunderbare Poetin, die so treffende Verse schmiedet, dass man Lust hat, darüber Filme zu machen: „Eisenbahnen, die das Grün der Landschaft rasieren“ – darauf muss man erst mal kommen.

Das Jahresmotto des Belvedere 21 lautet „Spirit of 68“. Davon ist heutzutage wenig übrig geblieben. Bewahren Sie sich Ihren Optimismus im Angesicht einer erstarkten Rechten?

Optimismus wäre ein Vorhersage, da wäre ich vorsichtig. Ich werde die Bitterkeit der wirklichen Verhältnisse nicht unterschätzen. Das, was da in Syrien und im Nahen Osten geschieht, dieser Krieg, der immer wieder aufflammt, weil so viele Außenkräfte den Konflikt zum Vehikel ihres Interesses machen ... Ich bin verblüfft darüber, dass wir noch vor den Dreißigjährigen Krieg zurück fallen. Das Chamäleon Krieg ist bunter geworden, und das erschreckt sehr. Daher kann ich mich keinen Optimisten nennen. Umso mehr muss man arbeiten, ihn zu verstehen. Man kann immer in die Lücke hinein. Es gibt immer einen Ausweg.

Im deutschen Feuilleton ist von einer neuen Menschenfeindlichkeit die Rede. Empfinden Sie das auch so?

Ich kann sie feststellen, ich kann sie beobachten. Ich glaube nur nicht, dass sie ewig ist. Es gibt einen Satz von Adorno (Deutscher Philosoph, von dem Kluge ein Vertrauter war, Anm.), an dem ich sehr hänge: „Man darf sich weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht dumm machen lassen.“

Kann Kunst gegen Rechts – gegen die AfD, gegen Trump mobil machen?

Ich finde, dass die Kunst für das Tagesgeschehen ein zu wertvolles Werkzeug ist. Andererseits kann ich zum Beispiel sagen, ich finde bei Max Weber den Satz vom „Charisma des betrunkenen Elefanten“. Da geht es um Kräuter, die im Bauch der Elefanten gären und sie zur plötzlichen Raserei bringen. Im Rust Belt, der Industriewüste an der Ostküste der USA, wo Arbeiter verzweifelt sind und am liebsten explodieren würden, wählen sie absurderweise einen Milliardär-Anführer. Warum? Weil er sich das traut, was sie täten, würden sie sich nicht beherrschen. Das ist das Charisma des betrunkenen Elefanten. Der Mensch, der in Funktionalität gesetzt wird, wird ausbrechen – und wenn, zum Falschen hin. Das haben wir 1929 bis 1933 sehr viel gröber erlebt als jetzt in Amerika, wo es ein bisschen Reality-TV-Charakter hat. Aber Reality-TV-Maximen, angewendet auf Fragen von Krieg und Frieden mit Nordkorea oder Iran, sind lebensgefährlich. Überall, wo Globalisierung zu intensiv wird, brechen Menschen ins Imaginäre aus. Das ist der Antirealismus des Gefühls. Die subjektive Seite wehrt sich und reißt alle Hindernisse nieder, wie ein betrunkener Elefant.

Sie sagen, der Mensch bricht zum Falschen aus, also nach rechts. Warum?

Weil möglicherweise die Worte bekannt sind und linke Worte nicht. Wenn man verletzt ist, sagt einem die Mitte gar nichts. Rechts war schon mal da, geht leicht zu formulieren – deswegen spricht man ja von Populismus, das ist die grausame Vereinfachung. Wir müssen die Irrtümer von Menschen so ernst nehmen, dass man einen Ausweg findet: Kenntnis der Notausgänge ist das schönste Welttheater. Sie brauchen für rechte Energien einen Notausgang. Und irgendwann einmal sollte man rechte und linke Energien so umdeuten, dass sie menschliche Energien sind.

Was ist dabei die Rolle der Kunst?

Das, was die Künste gut können: Beobachten. Menschen und Dinge respektieren, die sie beschreiben. Das ist die Haltung der Künste: Etwas zu sehen, was andere nicht sehen, ein langes Gedächtnis haben, Anwälte sein können. Das ist gefordert.

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