Kultur

In Russland wird "Geschichte wieder schöngeredet"

Nino Haratischwili hat mit ihrem Mammutroman "Das achte Leben (Für Brilka)" eine faszinierende Familiengeschichte über fünf Generationen geschrieben, die bis zur Letzten von 1280 Seiten nicht mehr loslässt. Gekonnt flicht sie darin politische Umwälzungen und familiäre Wechselfälle ineinander.

Von der zu Beginn des 20. Jahrhunderts geborenen Stasia bis zu ihrer Urenkelin Niza spannt sich die Erzählung über hundert Jahre Georgien und das geheimnisvolle, von Generation zu Generation weitergegebene Rezept von Schokolade, deren Genuss das Schicksal herausfordert. In Deutschland wurde Haratischwilis Buch von Medien wie dem Spiegel zum "Roman des Jahres" ausgerufen. Der KURIER traf die Autorin im Rahmen des Festivals "Literatur und Wein" in der Wachau. Das nächste Mal in Österreich zu Gast ist Haratischwili am 24. April beim Literaturfestival LITERASEE in Bad Aussee.

KURIER: Ihr Roman ändert den Blick auf die Zeit der Perestroika. Als Westeuropäer hat man oft das Gefühl, mit 1989 sei alles gut geworden. Wir dachten, nun kämen Demokratie und Freiheit. In Buch zeigt deutlich, dass das so nicht stimmt.

Nino Haratischwili: Auch ich habe lange angenommen, dass 1989 eine Zäsur war, nach der man begonnen hat, die Geschichte neu zu schreiben. Aber im Lauf des Recherchierens ist mit bewusst geworden, dass vieles, was heute in Russland passiert, eine direkte Fortschreibung dessen ist, was 1917 begann. Das ist eine erschreckende Erkenntnis.

Ist Russland wieder auf einem Weg in düstere Zeiten?

Es ist fast schon eine Wiederkehr alter Zustände. Wer heute russisches Fernsehen konsumiert, sieht Rehabilitations-Dokus für Stalin. Nach dem Motto: "Er hat ein paar Millionen umgebracht, aber ... " . Die Geschichte wird wieder schöngeredet.

Wird der Kommunismus in Westeuropa verharmlost?

Ja, und es ist mir ein Rätsel. Man kann, wenn man Marx liest, mit vielen Dingen einverstanden sein. Aber man kann nichts verherrlichen, das im Lauf von siebzig Jahren derart gewaltvoll und schrecklich in die Tat umgesetzt wurde. Auch wenn theoretisch vieles im Kommunismus gut ist: Damit wir alle Brüder und Schwestern sind, muss man schon davon ausgehen, dass kein Mensch nach Macht strebt. Nein, ich kann weder Ostalgie noch Naivität dem Kommunismus gegenüber verstehen.

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Ihre Muttersprache ist Georgisch, Sie schreiben aber auf Deutsch.

Ich habe ja in der Schule schon Deutsch gelernt. Deutsch ist in Georgien sehr beliebt. Viele Leute können Goethe rezitieren. Meine Schreibsprache ist heute Deutsch. Aber wahrscheinlich Georgisch gefärbt.

Also georgisches Deutsch.

Ja. Nicht, dass es grammatikalisch falsch ist, aber ich verwende oft ungewöhnliche Sprachbilder. Etwa, dass Schokolade "bestürzend" ist. Das steht zwar nicht im Duden, aber ich finde, es bereichert die Sprache, wenn Nicht-Muttersprachler auf Deutsch schreiben. Ich habe zuletzt Katja Petrowskaja und Saša Stanišić mit großem Vergnügen gelesen, der zum Thema Einbürgerung schreibt: "Jetzt sind wir für Deutschland erlaubt". Das würde ein Muttersprachler nicht sagen, aber es ist sehr treffend. Sprache ist ein lebendiger Organismus, der sich weiterentwickeln muss, sonst stirbt er aus.

Ist Ihr Roman schon auf Georgisch übersetzt?

Demnächst. Es wird interessant. Zu meinen Lesungen kommen georgische Migrantinnen, die sagen: Jemand hat unsere Geschichte erzählt. Das rührt mich sehr und macht mich demütig.

Woher kommt der Österreich-Bezug im Buch?

Ich hatte immer eine Schwäche für Wien. Ich blühe hier auf. Ich mag die Genusskultur. Ich würde gerne einige Zeit lang hier leben. Allein schon wegen der herrlichen Süßigkeiten.