Flambierte Körperteile in Cannes
Von Alexandra Seibel
Am dritten Tag des Festivals von Cannes kann man mit ziemlicher Sicherheit bereits eines behaupten: Die bizarrste Gewaltszene, die es seit langem auf der Leinwand zu sehen gab, fand gleich im ersten Wettbewerbsbeitrag statt. Und zwar in Amat Escalantes Mexiko-Alptraum „Heli“: Nachdem die Mitglieder einer Drogen-Gang ihr Opfer mitten im Wohnzimmer an den Händen aufgehängt und ausdauernd mit einem Stock die Wirbelsäule zertrümmert haben, ziehen sie ihm die Hose herunter – und zünden seinen Penis an. Im Ernst. Minutenlang – zumindest kommt es einem so lang vor – lodert der flambierte Körperteil vor sich hin. Ein gequältes Aufstöhnen ging durch den Publikumssaal, und ein Kritiker schrieb nachher völlig passend: Einer der Gründe, warum man sich diese Szene trotz ihres entsetzlichen Sadismus überhaupt so lange ansehen konnte, lag daran, dass man zwangsläufig von der Frage angetrieben war: Wie haben die das gedreht?
Darüber rätselten ein paar Naive auch noch später beim Abendessen. Doch die gewitzteren wussten gleich: natürlich ein CGI-Trick, was sonst.
Effektvoll war der Trick in jedem Fall, machte aber Escalantes kruden Pseudo-Realismus keineswegs intelligenter. Im Gegenteil: der Protegé von Mexikos Regie-Star Carlos Reygardas (der auch an der Produktion beteiligt war), gefällt sich in der Setzung krasser „Wirklichkeiten“. Er schwelgt in handwerklich „gut gemachten“, ultrabrutalen Szenarien, ohne deren vordergründigen Schockmoment etwas hinzuzufügen. So findet etwa die Folterszene mitten im Wohnzimmer statt, während apathische Kinder und Jugendliche mit leicht debilem Gesichtsausdruck Videos schauen. Nicht, dass diese Situation der Realität nicht entsprechen könnte. Aber Escalante verdoppelt nur das Elend und zementiert sein fieses Weltbild, indem er das Hässliche noch hässlicher macht.
Ozons gewagt-frivole Geschichte
Berührender Auftritt von Marcel Ophüls
Dafür hatte ein alter Meister der Filmgeschichte, Regisseur und Dokumentarist Marcel Ophüls („Hotel Terminus“), einen wirklich berührenden Auftritt. Sein (womöglich letzter) Film „Un Voyageur“ wurde in der „Quinzaine“ gezeigt, und Ophüls nahm nach dem Screening seinen Applaus persönlich in Empfang. Bei „Un Voyageur“ handelt es sich um eine autobiografische Doku, in der Ophüls noch einmal die wichtigsten Stationen seines Lebens durchgeht. Viele Details erfährt man über seinen berühmten Vater, Regisseur Max Ophüls, zu dessen Arbeiten Meisterwerke wie „Liebelei“ und „La Ronde“ zählen.
Aber auch aus seinem eigenen Leben hat Marcel Ophüls Witziges zu berichten – wenn auch streckenweise allzu ausführlich. Zu den lustigsten Momenten zählt Ophüls’ Erinnerung an Marlene Dietrich, die ihn in Paris einmal zu sich bat und ihm im Negligé die Tür öffnete. Sie hätte toll ausgesehen, beteuert Ophüls in seinem Film, und sie war damals sechzig. Die beiden verbrachten einen beschwingten Tag bis spät in die Nacht hinein, und gegen zwei Uhr morgens sich Ophüls die Frage: Soll ich oder soll ich nicht? Gemeint war offensichtlich, die Nacht mit Marlene Dietrich zu verbringen. Er wäre dann zu folgendem Entschluss gekommen, sagt Ophüls in die Kamera: „Sie ist zu alt für mich.“
Und während er das erzählt – der 86jährige Ophüls, der sich an die 60jährige Dietrich erinnert – zeigt er sich ob der verpassten Gelegenheit selbst den Vogel.