Kultur

Flambierte Körperteile in Cannes

Am dritten Tag des Festivals von Cannes kann man mit ziemlicher Sicherheit bereits eines behaupten: Die bizarrste Gewaltszene, die es seit langem auf der Leinwand zu sehen gab, fand gleich im ersten Wettbewerbsbeitrag statt. Und zwar in Amat Escalantes Mexiko-Alptraum „Heli“: Nachdem die Mitglieder einer Drogen-Gang ihr Opfer mitten im Wohnzimmer an den Händen aufgehängt und ausdauernd mit einem Stock die Wirbelsäule zertrümmert haben, ziehen sie ihm die Hose herunter – und zünden seinen Penis an. Im Ernst. Minutenlang – zumindest kommt es einem so lang vor – lodert der flambierte Körperteil vor sich hin. Ein gequältes Aufstöhnen ging durch den Publikumssaal, und ein Kritiker schrieb nachher völlig passend: Einer der Gründe, warum man sich diese Szene trotz ihres entsetzlichen Sadismus überhaupt so lange ansehen konnte, lag daran, dass man zwangsläufig von der Frage angetrieben war: Wie haben die das gedreht?

Darüber rätselten ein paar Naive auch noch später beim Abendessen. Doch die gewitzteren wussten gleich: natürlich ein CGI-Trick, was sonst.

Effektvoll war der Trick in jedem Fall, machte aber Escalantes kruden Pseudo-Realismus keineswegs intelligenter. Im Gegenteil: der Protegé von Mexikos Regie-Star Carlos Reygardas (der auch an der Produktion beteiligt war), gefällt sich in der Setzung krasser „Wirklichkeiten“. Er schwelgt in handwerklich „gut gemachten“, ultrabrutalen Szenarien, ohne deren vordergründigen Schockmoment etwas hinzuzufügen. So findet etwa die Folterszene mitten im Wohnzimmer statt, während apathische Kinder und Jugendliche mit leicht debilem Gesichtsausdruck Videos schauen. Nicht, dass diese Situation der Realität nicht entsprechen könnte. Aber Escalante verdoppelt nur das Elend und zementiert sein fieses Weltbild, indem er das Hässliche noch hässlicher macht.

Ozons gewagt-frivole Geschichte

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Vergleichsweise leichtfüßig, aber auch nicht viel intelligenter ging es in dem Jugenddrama „Young & Beautiful“ von Francois Ozon zu, das ebenfalls im Wettbewerb lief. Der Film handelt von einem jungen, unglaublich hübschen und gutbürgerlichen Mädchen namens Isabelle, dass in den Sommerferien erstmals Sex hat und im darauffolgenden Herbst beginnt, als Prostituierte zu arbeiten. Nachmittags trifft sich die Schülerin heimlich mit ihren Freiern im Hotel, hat Sex, nimmt Geld und geht wieder. Die Sache fliegt auf, als einer ihre Klienten, ein alter Herr mit Herzfehler, die Viagradosierung nicht überlebt und mitten im Sex abkratzt.
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Ozon erzählt dies alles mit leuchtenden Augen und ist sichtlich stolz auf seine gewagt-frivole Geschichte. Warum die junge Frau tut, was sie tut, scheint ihn aber wenig zu interessieren. Marine Vacth ist als Isabelle überaus hübsch, in ihrer emotionalen Ausdrucksfähigkeit allerdings nicht übermäßig variantenreich. Die Begegnungen mit den Freiern bleiben ebenfalls an einer schick gefilmten Oberfläche, und es offenbart sich nichts: nichts über eine Teenagerin, die ihre bürgerlichen Grenzen austestet, und schon gar nichts über Prostitution.

Berührender Auftritt von Marcel Ophüls

Dafür hatte ein alter Meister der Filmgeschichte, Regisseur und Dokumentarist Marcel Ophüls („Hotel Terminus“), einen wirklich berührenden Auftritt. Sein (womöglich letzter) Film „Un Voyageur“ wurde in der „Quinzaine“ gezeigt, und Ophüls nahm nach dem Screening seinen Applaus persönlich in Empfang. Bei „Un Voyageur“ handelt es sich um eine autobiografische Doku, in der Ophüls noch einmal die wichtigsten Stationen seines Lebens durchgeht. Viele Details erfährt man über seinen berühmten Vater, Regisseur Max Ophüls, zu dessen Arbeiten Meisterwerke wie „Liebelei“ und „La Ronde“ zählen.

Aber auch aus seinem eigenen Leben hat Marcel Ophüls Witziges zu berichten – wenn auch streckenweise allzu ausführlich. Zu den lustigsten Momenten zählt Ophüls’ Erinnerung an Marlene Dietrich, die ihn in Paris einmal zu sich bat und ihm im Negligé die Tür öffnete. Sie hätte toll ausgesehen, beteuert Ophüls in seinem Film, und sie war damals sechzig. Die beiden verbrachten einen beschwingten Tag bis spät in die Nacht hinein, und gegen zwei Uhr morgens sich Ophüls die Frage: Soll ich oder soll ich nicht? Gemeint war offensichtlich, die Nacht mit Marlene Dietrich zu verbringen. Er wäre dann zu folgendem Entschluss gekommen, sagt Ophüls in die Kamera: „Sie ist zu alt für mich.“

Und während er das erzählt – der 86jährige Ophüls, der sich an die 60jährige Dietrich erinnert – zeigt er sich ob der verpassten Gelegenheit selbst den Vogel.

Die Wettbewerbsfilme im Überblick:

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