Kultur

Großer Wurf von Schimmelpfennig

Ein Märchen, ein Albtraum, eine wissenschaftliche Abhandlung, ein sprachmusikalisch streng geformtes Oratorium oder doch ein Requiem auf die Menschheit? Die Uraufführung von Roland Schimmelpfennigs „Das fliegende Kind“ im Wiener Akademietheater gibt viele Rätsel auf , ist anstrengend und betörend zugleich, darf als großer, geheimnisvoller Wurf gewertet werden.

Worum geht es? Ein Mann fährt sein eigenes Kind über den Haufen, weil er zu einem Rendezvous mit einer schönen brasilianischen Regenwald-Forscherin will. Seine Frau kokettiert unterdessen während eines Laternen-Umzugs mit einem anderen Mann. Unter Tage philosophieren drei Tunnelarbeiter über Elementarteilchen, auf einem Kirchturm sieht ein Glöckner einen Leguan. Drei Lehrerinnen versuchen, Kinder heil durch den Abendverkehr zu lotsen, und die dunkle Stadt frisst allmählich ihre Geschöpfe auf.

Meisterhaft

Das klingt alles wirr und konfus? Nein, ganz und gar nicht. Denn Schimmelpfennig ist ein Meister im Einsammeln diverser Handlungsstränge, ein grandioser literarischer und zutiefst poetischer Handwerker, der Dinge zusammenführt, die scheinbar gar nicht zueinander passen. Und der deutsche Autor macht aus einem simplen, tragischen Verkehrsunfall (der Vater ist ohne Licht gerast, das Kind ist tot) ein hochgradig musikalisches, stellenweise auch unfassbar komisches Vexierspiel mit Ebenen, Zeiten, Zufällen und Befindlichkeiten.

Sicher: Das ist anstrengend, wirkt mitunter auch etwas angestrengt und konstruiert, hält aber (zumal in des Autors eigener, völlig reduzierter Inszenierung) den Zuseher bei der Stange. Schimmelpfennig wirft Fragen auf, bleibt Antworten schuldig, macht das aber so konsequent, dass es aufgeht.

Eine leere, schwarze Bühne (Johannes Schütz), drei Glocken unterschiedlicher Größe, ein paar Laternen, diverse Kopfbedeckungen sowie entpersonalisierte Darsteller, die als

Erzähler fungieren und abwechselnd in diverse Rollen schlüpfen – mehr braucht es nicht, um das theatralische Koordinatensystem aus dem sicheren Gleichgewicht zu bringen.

Vielstimmig

Und Schimmelpfennig – er wurde wie auch seine Schauspieler bei der Uraufführung gefeiert – hat in der Akademie ein ideales Ensemble für seine Weltbetrachtungen zur Verfügung. Christiane von Poelnitz als „Frau um die vierzig“, Regina Fritsch als „Frau um die fünfzig“, Barbara Petritsch als „Frau um die sechzig“, Peter Knaack als „Mann um die vierzig“, Falk Rockstroh als „Mann um die fünfzig“ und Johann Adam Oest als „Mann um die sechzig“ agieren brillant. Sie spielen vom Kleinkind bis zur Vogelstimme so ungefähr alles, was es gibt. Mit einer Virtuosität, einer Intensität, wie sie ganz selten zu erleben ist.

Das Theater als perfekt getimtes Spiel mit dem Spiel – bei dieser Produktion wird dies zum Credo. Und wirkt noch lange, lange nach.

Fazit: Ein Ratespiel mit Folgewirkungen

Stück: Roland Schimmelpfennig nimmt einen Verkehrsunfall zum Anlass, über vieles nachzudenken. Er wirft dabei viele Fragen auf, bleibt die Antworten bewusst schuldig, macht das aber unfassbar virtuos.

Regie: Reduziert, komprimiert.

Spiel: Christiane von Poelnitz, Regina Fritsch, Barbara Petritsch, Peter Knaack, Falk Rockstroh und Johann Adam Oest agieren einfach fabelhaft.

KURIER-Wertung: ***** von *****