Kultur

"Ich bin allergisch gegen Popmusik"

Es war zwar der Artmann, der "med ana schwoazzn dintn" geschrieben hat, aber auch Gerhard Rühm schreibt ausschließlich mit schwarzer Tinte. Eine Widmung mit blauem Kugelschreiber ist unmöglich – ebenso ein Interview am Vormittag.

Gerhard Rühm, der Klassiker des sprachexperimentellen Dichtens, feiert heute, Donnerstag, seinen 85. Geburtstag. Als der KURIER ihn in seiner Wohnung in Wien-Neubau besucht, läutet oft das Telefon. Eine Interviewanfrage nach der anderen, viele wollen die seltene Gelegenheit nützen, den Künstler, der Wien vor 48 Jahren verlassen hat, zu treffen. Jeder bekommt zu hören: Nicht vor 14 Uhr. Denn am produktivsten ist der Dichter, Komponist und Maler nachts. Er geht nie vor zwei Uhr früh ins Bett. Sein Arbeitstag beginnt am Nachmittag meist mit einer Stunde Barockmusik. Auch Jazz darf es sein. Nur eines nicht: Pop.

Wer Rühm in Wien in der ehemaligen Wohnung seiner Eltern trifft, erlebt den perfekten Gastgeber – es gibt Mannerschnitten. Rühm legt Wert auf diese Tradition und wird später welche mit nach Köln nehmen, wo er seit 36 Jahren lebt. Sein Zuhause? Naja, er ist in vielen Städten daheim: Berlin, Hamburg, Wien und eben Köln. Rühm ist eben nicht festzumachen – weder auf einen Ort wie auf ein Genre: Musik, bildende Kunst und Literatur – er lotet die Grenzbereiche aus.

KURIER: H. C. Artmann hat einmal behauptet, Sie haben die "Wiener Gruppe" erfunden. Stimmt das?
Gerhard Rühm (lacht): Der H. C. hat viel gesagt. Er hat viel Fantasie gehabt und sich auch oft widersprochen. Er hat auch einmal gesagt, die "Wiener Gruppe" hätte es gar nicht gegeben. Es hat sie natürlich gegeben, aber er hat sich relativ früh davon entfernt. Der Impuls zur Dialektdichtung ging damals von ihm aus. Er hatte festgestellt, dass viele Gedichte von Garcia Lorca schlecht übersetzt sind, dass sie eigentlich im Dialekt übersetzt werden müssten, weil sie ja in spanischem Dialekt geschrieben wurden. Da haben wir uns überlegt, selbst Wiener Dialektgedichte zu schreiben. Ich schreibe aber so gut wie keine Dialektgedichte mehr.

Haben Sie noch Bezug zu Ihrer Arbeit von damals?
Ja, diese Kunst ist für mich sehr lebendig. Aber es ist mir nicht sehr angenehm, dass ich speziell in Österreich immer in Zusammenhang mit der "Wiener Gruppe" genannt werde, denn ich habe inzwischen ein ganz neues Lebenswerk geschaffen.

Sprachforscher Fritz Mauthner hat gesagt, Sprache kann nicht die Wirklichkeit beschreiben. Haben Sie jemals versucht, die Wirklichkeit zu beschreiben?
Ja, schon. Es gibt ein Stück, die Frösche, das ist eine minutiöse Beschreibung eines Weges in Mörbisch, der voll von Fröschen ist, die immer überfahren werden. Aber prinzipiell ist natürlich immer die Frage: "Was ist Wirklichkeit?" Sie ist ein Erlebnismoment. Objektive Wirklichkeit ist nicht wahrnehmbar.

Bei Ihren Lesungen wird viel gelacht. Welche Rolle spielt Humor in Ihrer Arbeit?
Für mich hat Humor keine vordergründige Bedeutung – höchstens der schwarze im Sinne von André Breton. Manche Leute finden Sachen lustig, die ich überhaupt nicht lustig finde.

Ihr Kollege Friedrich Achleitner bezeichnet Sie als "Jetzt"-Fanatiker. Er schreibt, er sei immer zu langsam für das "Jetzt" gewesen. Wissen Sie, wovon er spricht?
Ich kann es mir vorstellen, weil er immer als der Langsamste innerhalb der Gruppe gesehen wurde.

Und inwiefern sind Sie ein "Jetzt"-Fanatiker?
Weil das Jetzt im Zentrum meiner gesamten Arbeit steht. Wir leben jetzt und man sollte nicht mit seinen Gedanken schon in der nächsten Stunde sein, sondern dem Augenblick folgen.

Ihr Vater war Philharmoniker. Wie nahm er Ihre Musik auf?
Entsetzt. Er fand das alles schrecklich, geradezu geisteskrank. Er war als Philharmoniker sehr konservativ. Bei ihm hat die Musik mit Richard Strauss aufgehört. Ich war immer ein großer Schönberg und Webern-Fan. Und ich bin ein Fan von Barockmusik, ich spiele jeden Tag eine Stunde auf meinem Bösendorfer. Die Bandbreite reicht da von Barock bis Zwölf-Ton und Jazz. Strauss mag ich nicht. Und ich bin allergisch gegen Popmusik.

Gerhard Rühm, geboren 1930 in Wien, zählt als Gründungsmitglied der "Wiener Gruppe" (Friedrich Achleitner, H. C. Artmann, Konrad Bayer und Oswald Wiener) zu den Klassikern der modernen österreichischen Literatur. Er studierte Klavier und Komposition an der Wiener Musikakademie. Als Dichter, Komponist und bildender Künstler operiert er an den Schnittstellen zwischen Bild und Musik, geschriebener und gesprochener Sprache.

1991 erhielt er den Großen Österreichischen Staatspreis für Literatur. Er lebt in Köln und Wien.

Seine gesammelten Werke werden bei Matthes & Seitz herausgegeben. Bei Droschl sind u. a. "Sämtliche Wiener Dialektgedichte" (mit CD) erschienen. Im ORF-RadioKulturhaus findet am Donnerstag der Abend "Wortlaute" statt. Das künstlerische Programm bestreiten Gerhard Rühm und seine Frau, die Musikpublizistin Monika Lichtenfeld.