Filmkritik zu "Explanation for Everything": Matura als Polit-Skandal
Von Alexandra Seibel
Um seinen dritten Spielfilm zu finanzieren, hat der ungarische Regisseur Gábor Reisz gar nicht erst um staatliche Filmförderung angesucht: Dafür sei seine gewitzte Sozialsatire „Explanation for Everything“ zu politisch und gesellschaftskritisch. „Das hätte keinen Sinn gehabt“, so der Filmemacher zum KURIER.
Im Mittelpunkt der leichtfüßigen Coming-of-Age-Geschichte steht der 18-jährige Schüler Abel – kurz vor seiner Matura. Sein Architekten-Vater prüft den Sohn fleißig ab, doch Abel sprüht nicht gerade vor Wissen. Bei der Geschichtsprüfung bringt er den Mund nicht auf. Um das Eis zu brechen, fragt ihn sein liberaler Lehrer, warum er die Anstecknadel mit den ungarischen Nationalfarben trage?
Tatsächlich hat Abel nur vergessen, das Nationalsymbol nach den Feierlichkeiten des Nationalfeiertages abzunehmen. Aber seinem erbosten Vater erzählt er, sein „linker“ Lehrer habe ihn durchfallen lassen, weil Abels Vater ein Anhänger Viktor Orbáns sei. Durch Zufall wird das Ereignis von konservativen Medien aufgegriffen und zum nationalen Skandal stilisiert.
Nouvelle Vague
Zu den Stärken von Reisz’ höchst unterhaltsam erzähltem Schuldrama über ein bipolares Ungarn zählt, dass keine der Figuren moralisch verurteilt wird. Sowohl der Vater als auch der Lehrer werden in ihren Anliegen und Irrläufen ernst genommen. Gefilmt mit der Handkamera, atmet das Porträt des verwirrten Schülers den frischen Atem einer Nouvelle Vague, vergleichbar mit Truffauts „Sie küssten und sie schlugen ihn“ – nicht zufällig einer der Lieblingsfilme von Gábor Reisz.
INFO: HUN/SVK 2023. 151 Min. Von Gábor Reisz. Mit Gáspár Adonyi-Walsh.