Besuch beim Kraftklubsänger: Kummer über Chemnitz
Manche Städte prägen sich durch einen Sound ein, andere durch ihren Geruch: Chemnitz riecht für Felix Kummer nach feuchten Kellern. So wie das Viertel, in dem er aufgewachsen ist, mit verwilderten Hinterhöfen, leer stehenden Häusern. „Man konnte überall rein, so wie hier“. Er zeigt auf ein halbverputztes Gebäude mit offenen Fensterhöhlen. Das Haus ist eher eine Ausnahme. Vor sechs Jahren war hier alles tot, erklärt der 30-Jährige. Jetzt reihen sich renovierte Gründerzeithäuser und Cafés aneinander.
Hier, am Brühl, hat die Band Kraftklub ihren Proberaum. 2012 schafften es die fünf Männer mit dem Album „K“ von null auf Platz eins der Album-Charts. „Bin ein Verlierer, Baby, original Ostler“ singt er da. Der Osten ist Avantgarde, schrieb die deutsche Wochenzeitung Die Zeit und fragte anerkennend, woher dieser Ost-Stolz komme. Das war, bevor Pegida in Dresden auftauchte, Kameras auf Merkel-muss-weg-Chöre an ostdeutschen Marktplätzen gerichtet waren und die AfD Wahlerfolge erzielte. Auch in Chemnitz.
Die 250.000-Einwohner-Stadt, die bis 1990 Karl-Marx-Stadt hieß, ist ein Ort mit Brüchen. Manche lassen sich schön sanieren wie ein Altbau, brechen aber immer wieder auf. Wenn man ihren Namen hört, fallen einem die Bilder vom August 2018 ein. Nach einem tödlichen Messerangriff marschierten Tausende Neonazis und Hooligans auf. Andere hielten dagegen: „Chemnitz ist weder grau noch braun“ stand auf ihren Plakaten.
„Ich wäre nicht hier, wenn ich es nicht schön finden würde“
Felix Kummer versucht zu erklären, warum es ein Ort ist, den man auch mögen kann. „Weißt du, ich wäre nicht hier, wenn ich es nicht schön finden würde“. Ja, die Sache mit Chemnitz ist kompliziert.
Was hier einfacher, als anderswo läuft, zeigt er einem selbst. Treffpunkt Karl-Liebknecht-Straße, unweit des Bahnhofs. Wer hier ankommt, sieht zuerst die Oper, dann den Plattenbau. Dort hat er kürzlich einen Pop-Up-Plattenladen eröffnet. Felix Kummer, 30 Jahre, erkennt man auch ohne die roten Hosenträger sofort: groß, blond, schwarze Hose, weiße Socken und Rucksack am Rücken. Er ist alleine unterwegs, ohne den Kraftklub. Und er muss heute noch mit dem Zug nach Berlin, lässt der Mann wissen, der einst die Hymne zum Hierbleiben schrieb („Ich will nicht nach Berlin“).
Aber vorher sperrt er eine Tür im Erdgeschoss eines graubraunen Wohnblocks auf. „Die Glocke“ steht auf dem Schild. Seit 20 Jahren steht die Kneipe leer. Kummer verkaufte hier sein erstes Solo-Album „Kiox“. So hieß der Plattenladen seines Vaters, wo er und sein Bruder Till als Kinder herumflitzten und der Rapper Trettmann seine längste Anstellung hatte. Dort zwischen Schallplatten, Kassetten und CDs bekam er ein Gefühl dafür, wie schön Musik zum Anfassen sein kann.
Sein Vater Jan Kummer, ein bildender Künstler, hat den Laden mittlerweile aufgegeben. Heute sind in dem ehemaligen Industriegebäude Lofts drinnen. „Die Gentrifizierung macht auch vor Chemnitz nicht halt.“ Kummer meint es scherzhaft. Während halb Deutschland über hohe Mietpreise stöhnt, liegen die Quadratmeterpreise in Chemnitz je nach Stadtteil durchaus noch bei fünf bis sechs Euro. Auch die Räume der alten Kneipe hat sich noch kein Investor gekrallt. So fand Kummer einen günstigen Pop-Up-Store in zentraler Lage: „Versuch das mal in Berlin.“
Leerstand, aber keine Langeweile
Mit Kaffee in der Hand schlendert er weiter und erzählt vom Aufwachsen. Dabei gestikuliert er mit seinen langen Armen, verstellt mal die Stimme, lacht, wird dann leiser. In Chemnitz zu leben, ist immer ein Sowohl-als-auch. Die DDR-Zeit hat er, Jahrgang 1989, nie erlebt. Er nahm sie als niedliche Schwarz-Weiß-Version vom echten Leben wahr. Seine Eltern, kritische Geister und Musiker, haben viel darüber gesprochen, die Lehrer in der Schule weniger. „Im Unterricht gab’s die richtig heftige Diktatur und dann die, wo alle ein bisschen gelächelt haben.“
Und doch haben nach der Wende fast 60.000 Menschen die Industriestadt verlassen. Zurück blieben leere Wohnungen und ältere Menschen. Und jene, die diesen Blues aufgesogen haben. Da es nichts gab, war man genötigt, „in die Hufe zu kommen“, sagt Kummer und berichtet von illegalen Konzerten, Raves in Fabriken; einer Musikszene von Hardcore, Dancehall bis Hip-Hop.
Sogar Eminem hat es in die sächsische Provinz verschlagen. Ausgerechnet der Mann aus Detroit soll Chemnitz als „hässlichste Stadt der Welt“ beschrieben haben.
Gehen oder bleiben?
Klar, weiß er wie das ist, auf der Verlierer-Seite Deutschlands zu leben, sagt er. Spätestens als die meisten aus seinem Jahrgang nach dem Abi weggegangen sind. Gehen oder Bleiben, die Frage ist immer geblieben und damit ein Gefühl zwischen „Scheiß drauf, ich verpiss mich und ne, irgendwie ist es gerade geil zu bleiben“. Damals überwogen die Vorteile für junge Künstler: Billige Mieten und viel Platz zum Proben. „Wir hatten uns ja auf ein langes Leben als darbende Indie-Band eingestellt.“ Es ist anders gekommen.
Von erfolgreichen Ostlern liest man heute weniger, eher von Abgehängten und Verlierern. Ein Narrativ, das Kraftklub halbironisch übernommen hat. Seit es ernst geworden ist, wird Kummer in Interviews oft zum Gemüt der Ostdeutschen befragt. Aber wie soll man vermitteln, was man selber nicht versteht? Überhaupt: „Wer ist ‚der Ostdeutsche’?“, fragt er. „Das wird oft als gallertartige Masse beschrieben.“
„Wir waren früher alle Opfer, da musstest du nicht einmal einen Hoodie tragen oder links sein“
Genauso wenig sei Chemnitz ein „dystopisches Zombieland“, sagt er mit Blick auf Rechtsextreme. Aber: Sie existieren, und das hat lange niemanden gejuckt. Er weiß, wovon er spricht. „Wir liefen über die Straßen, getragen von Adrenalin. Liefen schnell wie die Hasen. Doch schneller als Autos waren wir nie“, rappt er etwa in dem Song „9010“ – Chemnitz’ alter Postleitzahl. „Wir waren früher alle Opfer, da musstest du nicht einmal einen Hoodie tragen oder links sein.“ Wenn er heute von den Typen von früher erzählt, die heute ein Häufchen Elend an der Tanke sind, gestikuliert er mit seinen langen Armen: „Wenn du als Kind Wellen hüpfst, die dir riesig vorkommen, und Jahre später denkst du dir OK.“
Weiter geht es durch die Fußgängerzone des Brühl-Viertels, wo plötzlich sieben überdimensional große Buchstaben den Weg zur Straße abgrenzen: ZUHAUSE steht da. Gleich daneben wird gerade ein Studentenwohnheim fertig gebaut – „wie ein Kurhotel an der Ostsee“ findet Kummer, der sich darüber amüsiert. Gleichzeitig aber ein schlechtes Gewissen äußert; er ist ja hier selbst ein bisschen auf Kur. „Es wäre schon selbstgerecht zu sagen, die Stadt ist mega toll, wenn zur Wahrheit gehört, dass ich viel unterwegs bin und Chemnitz als Rückzugsort habe, um mich zu erholen."
Er läuft weiter, zeigt auf Cafés und Bars, wo er sich gerne mit Freunden trifft, oder empfiehlt das syrische Lokal, oben an der Straße der Nationen.
Abstand vom Ausnahmezustand
Dann gib es aber Zeiten, da hält man es hier schwer aus. Wie im August 2018, als Neonazis und Hooligans aufmarschierten. „Die sind hier durch die Stadt, als wäre es ihre“, sagt er, als könne er es selbst fast nicht glauben. „Du hast das Gefühl, alles würde unter der gebündelten Hitze eines Brennglases verkohlen.“ Kummer und Bandkollegen initiierten das #Wirsindmehr-Konzert mit 65.000 Menschen, wo unter anderem Trettmann, Casper, Marteria, Feine Sahne Fischfilet, die Toten Hosen und Kraftklub spielten.
„Es ist nicht die Aufgabe von Musikern politische Verfehlungen der letzten 30 Jahre zurechtzubiegen“
Kummer brauchte danach Abstand und schrieb an „Schiff“. Wo es um ein Kreuzfahrungetüm geht mit „rostbraunen Flecken an den Wänden unter Deck“ und einer Band, „die spielt weiter, aber ändert nix daran“. „So hat sich das auch angefühlt“, sagt er rückblickend. Es wäre naiv gewesen zu glauben, man könne mit einem Konzert was verändern. „Aber, was erwartet man auch von uns? Es ist nicht die Aufgabe von Musikern politische Verfehlungen der letzten 30 Jahre zurechtzubiegen“, findet er.
Das Konzert war für jene, die hier leben und sich vor Ort engagieren – viele davon kennt er persönlich. „Man will die nicht alleine lassen und auch selber nicht alleine gelassen werden.“
Dass vor allem über den Image-Schaden von Chemnitz debattiert wurde, findet er frustrierend. „Es gibt Faschos, die anderen aufgrund ihrer Hautfarbe oder weil sie nach Zecke aussehen, Gewalt antun. Aber Sorgen machen sich die Leute über das Image der Stadt, das Bild in der Welt. Da wird dann verlangt, dass jetzt mal die Medien kommen, wenn das neue Schwimmband eingeweiht wird.“ Es sind diese Widersprüche der Stadt, die ihn beschäftigen und ein wenig ratlos machen.
Dazu zählt, dass in die drittgrößte Stadt Sachsens noch immer kein ICE fährt. Das ist ein wunder Punkt für Chemnitzer, sagt Kummer, der jetzt mit schnellen Schritten am Weg zum Bahnhof ist. Dort steht schon der Zug nach Leipzig, Typ: Deutsche Reichsbahn aus DDR-Zeiten, bereit. Wer hinein will, muss die Stufen hochklettern, die Tür kräftig zuziehen. Kummer fährt gerne mit dem „Hogwarts Express“. Eine Stunde tuckert der Zug durchs Funkloch. Es ist ein bisschen wie zwischen den Welten reisen.
Info: Felix Kummer ist mit seinem Solo-Album "Kiox" gerade auf Tour und spielt am 2.12. und 16. März 2020 in Wien.