Elton John mit "Rocketman“ in Cannes: Krokodil verleiht Flügel
Von Alexandra Seibel
„Mein Name ist Elton Hercules John. Ich bin alkoholsüchtig, kokainsüchtig, sexsüchtig, bulimisch und shoppingsüchtig.“
Sonst noch Fragen?
Was Sie schon immer über Elton John wissen wollten – hier werden Sie es nicht erfahren. Oder nur sehr wenig davon. Denn „Rocketman“ (Kinostart: 30. Mai), das flamboyante, schrille und energiegeladene Bio-Pic über den britischen Weltstar Elton John, zelebriert in erster Linie Oberflächen und Klischees, die ein öffentliches Rockstar-Leben mit sich bringt. Dieser kam höchstpersönlich angereist, um in Cannes über den roten Teppich zu hinken (aufgrund einer Knöchelverletzung) und bei der Premiere seiner Lebensverfilmung eine Träne im Knopfloch zu tragen.
Tatsächlich kann einem Schlimmeres passieren, als von so einem talentierten Schauspieler wie Taron Egerton („Kingsmen“) verkörpert zu werden. Egerton durchläuft mit Verve die frühen Karriere-Stationen von Reginald Dwight, der als Elton John am Pop-Himmel durchstartet und sich nichts sehnlicher wünscht, als von seinem Vater geliebt zu werden. Regisseur Dexter Fletcher, der Mann hinter dem Mega-Erfolg von „Bohemian Rhapsody“, startet die Lebensbeichte bei den Anonymen Alkoholikern, wo Elton John in einer Selbsthilfegruppe sein Leben aufrollt.
In eleganten, energetischen Musical-Sequenzen werden die Jugendjahre in schönen, farbenfrohen Ensemble-Choreografien heraufbeschworen. Den ersten US-Auftritt beginnt Elton John mit seinem Hit „Crocodile Rock“ und hebt dabei buchstäblich ab: Sowohl er als auch sein Publikum beginnen zu fliegen. Allerdings erlahmt der anfängliche Schwung, die Auf und Abs zwischen Drogenexzess und Karriereerfolg werden in ihrem Schematismus ermüdend. Es wird sich zeigen, ob „Rocketman“ mit dem Mega-Erfolg von „Bohemian Rhapsody“ mithalten kann.
Geister in Dakar
Einer, der sich schon in die Pension verabschiedet hat, aber dann doch immer wieder (nach Cannes) zurückkehrt, ist der britische Altmeister des sozialrealistischen Kinos. Der 82-jährige zweifache Palmengewinner Ken Loach hat mit seinem eindringlich erzählten Drama „Sorry we missed you“, das im Wettbewerb gezeigt wurde, noch einmal das Wort gegen die rabiaten Auswüchse eines ungebremsten Kapitalismus erhoben. Das Leben eines Lieferwagenfahrers, der Pakete zustellt, gerät in die Krise, als der Druck seines Arbeitspensums auch sein Familienleben zu zerbröseln droht.
Wie berufstätige Eltern ihre Kinder per Handy erziehen müssen, weil der Stress ihnen die Zeit zu Hause verunmöglicht, erzählt Loach intensiv, aber erfrischend undidaktisch. Trotzdem bleibt seine Botschaft unmissverständlich – und Loach fasste sie bei seinem Cannes-Besuch noch einmal in klare Worte: „Dieses System tötet!“
Von Systemkillern erzählt auch das Regiedebüt der französischen Regisseurin Mati Diop, die in „Atlantique“ von einer jungen urbanen Generation in Dakar und deren zerschmetterter Zukunft erzählt. Ein junger Bauarbeiter, dessen Lohn vom korrupten Bauunternehmer nicht ausbezahlt wird, versucht, in einem Boot nach Spanien zu flüchten. Seine heimliche Geliebte ist einem reichen Mann versprochen. Mati Diop erzählt in traumtänzerischen, geisterhaften Bildern von Toten, die zurückkehren, um Rache zu nehmen. Und im Hintergrund rauscht – als drohendes Massengrab – das Meer. Mati Diop ist übrigens die erste schwarze Frau, die je an einem Wettbewerb in Cannes teilnahm.