"Eine Art europäisches YouTube"
Von Christoph Silber
Seit 1. Februar 2011 ist Ulrich Wilhelm (57) Intendant des Bayerischen Rundfunks und er wurde jüngst erneut zum Vorsitzenden der ARD gekürt. Der gebürtige Münchner - früher Journalist, Jurist und u. a. Regierungssprecher - diskutiert am Mittwochvormittag zum Auftakt der Österreichischen Medientage u. a. mit Alexander Wrabetz und Thomas Bellut (ZDF) über die TV-Zukunft (10.35, ORFIII).
KURIER: Ist es nicht müßig, über die Fernsehwelt der Zukunft aus europäischer Sicht zu diskutieren? Europa spielt im Konzert der Tech-Giganten, die auch den Takt in der Medienwelt vorgeben, keine Rolle mehr.
Ulrich Wilhelm: Für unser Publikum spielt Europa sehr wohl eine zentrale Rolle. Die Mehrheit unserer Zuschauer, Hörer und User will nach wie vor Inhalte, die in ihrer Lebenswirklichkeit spielen - regionale, nationale, europäische Inhalte. Die regionale Verankerung ist doch die große Stärke der ARD und des öffentlich-rechtlichen Rundfunks insgesamt, ob in den Bereichen Information, Bildung, Sport, Kultur oder Unterhaltung. Wir haben schon immer vor allem auf lokalen und regionalen Content und auf Eigenproduktionen gesetzt, weil wir es als unsere Aufgabe sehen, nah an den Menschen zu sein. Natürlich müssen wir gleichzeitig auf die Konkurrenz aus Übersee mit ihrer riesigen Finanzkraft reagieren, etwa im Bereich serielles Erzählen, müssen hochwertige Eigenproduktionen stemmen, komplexe Geschichten erzählen. Eine Serie wie „Babylon Berlin“, die am 30.9. im Ersten startet und auf Weltniveau spielt, zeigt aber, dass wir bereits reagiert haben.
Sie haben einen Vorstoß lanciert für eine europäische Plattform, die Rundfunkanbieter, Verlage, aber auch Institutionen aus Kultur und Wissenschaft versammeln soll. Wie waren die Reaktionen und hat ein solches Vorhaben aus Ihrer Sicht eine realistische Chance?
Davon bin ich fest überzeugt: Alle, mit denen ich spreche, erkennen die Herausforderung: Europa ist in Gefahr, die digitale Hoheit über sein kulturelles Erbe zu verlieren. Im Moment landet jeder, der im Internet eine große Zielgruppe erreichen will, zwangsläufig bei Google, Apple, Facebook und Amazon. Diese dominanten US-Plattformen spielen nach ihren Regeln. In den USA wird beispielsweise Nacktheit als etwas Schlimmeres angesehen als die Leugnung des Holocaust und entsprechender Content einfach gelöscht. Algorithmen steuern die Sichtbarkeit von Inhalten. Wir haben in Europa nicht mehr selbst in der Hand, welcher Inhalt mit welcher Relevanz sichtbar wird, wir haben die Kontrolle an US-Firmen abgegeben. Wir brauchen eine europäische digitale Infrastruktur – eine Plattform von Qualitätsangeboten im Netz, an der sich die Öffentlich-Rechtlichen, die privaten Rundfunkanbieter, die Verlage, aber auch Institutionen aus Wissenschaft und Kultur und viele andere beteiligen können. Deutschland und Frankreich könnten die Initiatoren sein, weitere Länder hinzukommen. Am Ende sollte ein großer Wurf stehen, so wie Airbus einst die Antwort auf Boeing war.
In Deutschland hat die Wettbewerbsbehörde in der „Urzeit“ des Streamings Plattformen der Öffentlich-Rechtlichen oder der großen Privat-TV-Konzern verhindert. Die wiederum behindern sich auch gern gegenseitig. Was muss sich verändern im Zugang zu diesem Thema?
Mir geht es wie gesagt um mehr als eine bloße Streaming-Plattform, und wir haben das Thema auch auf Ebene der EBU, der Vereinigung öffentlich-rechtlicher Rundfunkanbieter Europas, schon mehrfach diskutiert. Meine Idee ist ein digitales öffentliches Wegesystem als europäische Alternative zu den US-Giganten – eine Art europäisches YouTube mit Elementen von Facebook für den direkten Austausch mit den Nutzern sowie Elementen von Google, vor allem einer guten Suchfunktion. Mit gemeinsamen Login-Systemen aller Anbieter. Und einem anderen, im Vergleich zu den USA bürgerfreundlicheren Umgang mit Privatsphäre und Datenschutz, der auf den europäischen Idealen von Vielfalt, Qualität und Offenheit aufbaut. Ein digitales Ökosystem verschiedener Inhalteanbieter, das sich wettbewerbsneutral verhält und verschiedenste Geschäftsmodelle erlaubt.
Auch die Gegenwart ist für die Öffentlich-Rechtlichen fordernd. Die größte Baustelle in Deutschland ist die Gebührenfrage. Wo sehen Sie hier einen Lösungsansatz gegenüber der Politik, die letztendlich darüber bestimmt?
Wir haben in Deutschland mit dem aktuellen Modell eines Beitrags pro Haushalt ein zukunftsfähiges Modell. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat dieses Modell erst kürzlich im Kern bestätigt. Ein wichtiges Element dabei ist die staatsferne Festsetzung der Beitragshöhe. Die Herausforderung liegt eher in einer zunehmenden Politisierung der Beitragshöhe. Die Empfehlung einer unabhängigen Kommission zur Beitragshöhe muss in 16 Bundesländern von den Landtagen umgesetzt werden, die aufgrund verfassungsrechtlicher Vorgaben eigentlich nicht maßgeblich von der Empfehlung abweichen dürfen. Ich halte daher den Vorschlag einer Indexierung, also einer langfristigen Weiterentwicklung des Rundfunkbeitrags entlang der Verbraucherpreise für überlegenswert. Dies könnte helfen, die Rundfunkpolitik zu versachlichen. Es gäbe uns Planungssicherheit für notwendige Reformen, vor allem den weiteren Umbau für die digitale Welt. Gleichzeitig bliebe ein ständiger Spardruck aufrechterhalten, da die medienspezifische Teuerung über der allgemeinen Teuerung liegt.
Ein Thema ist, in Deutschland und Österreich gleichermaßen, der Umfang der Aufgaben, die sich Öffentlich-Rechtliche im Grunde selbst geben – und wodurch sich Privatsender und Verleger gern provoziert fühlen. Wo sind für Sie die Grenzlinien, was etwa eine ARD noch tun soll – oder was Private genauso gut oder besser tun können? Oder hat sich der Disput zwischen Öffentlich-Rechtlichen und Privaten sowieso überlebt?
Zunächst: unseren Auftrag legen wir nicht selbst fest. Er ist vielmehr gesetzlich festgeschrieben und in Deutschland auch verfassungsrechtlich verankert: Um in der Mitte der Gesellschaft zu bleiben, umfasst unser Auftrag neben Information, Bildung und Kultur auch Sport und Unterhaltung. Aus meiner Sicht hat sich der alte Disput zwischen Öffentlich-Rechtlichen und Privaten aber in der Tat weitgehend überlebt: Es geht um die gemeinsame Aufgabe, ein starkes nationales und europäisches audiovisuelles Umfeld zu erhalten, im Interesse unserer kulturellen Selbstbehauptung. Der Wettbewerb mit den US-Anbietern ist unsere gemeinsame Herausforderung. Dieser neue starke globale Wettbewerb um die Aufmerksamkeit des Publikums, aber auch um Talente vor und hinter der Kamera wird uns in den kommenden Jahren stärker beschäftigen als die Binnenkonkurrenz zwischen öffentlich-rechtlichen und privaten Sendern.
Die politische Meinungsbildung wird derzeit nach dem Prinzip geführt, wer am lautesten schreit, hat recht. Das gilt besonders für Social Media-Kanäle, die zum Hort von Fake News, Hass und Manipulation geworden sind. Es scheint keine Brücke mehr zwischen den Meinungspolen zu geben. Und es werden Journalisten in ihrer Arbeit eingeschränkt und bedroht und das nicht irgendwo, sondern in Deutschland – und Österreich ist keine Insel der Seligen. Wie sehen Sie die Situation? Kann Öffentlich-Rechtlicher Rundfunk, der als „Staatsfunk“ diskreditiert wird, hier überhaupt noch etwas leisten?
Diese Zunahme von Hass und Manipulation im Netz ist auch meine Beobachtung. Sie erfüllt mich mit großer Sorge. Am Ende geht es um den gesellschaftlichen Zusammenhalt, in Deutschland wie Europa. Heute gilt: Je zugespitzter und emotionaler ein Inhalt im Netz ist, desto stärker verbreitet er sich. Das führt zu Radikalisierung und Polarisierung. Die Folgekosten sind umso größer, je mehr Europa zerrieben wird. Demokratie braucht, wenn es darauf ankommt, eine ungeteilte, integrierte Öffentlichkeit statt immer mehr Teilöffentlichkeiten und Filterblasen, in denen sich nur die jeweils eigene Weltsicht bestätigt. Hier liegt die gemeinsame Aufgabe aller Qualitätsmedien, und die spezielle Aufgabe des solidarisch finanzierten öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Und hier liegt auch das Potential einer europäischen Qualitätsplattform, wie ich sie skizziert habe.
Zum Programm der ARD: Sie haben schon öfters moniert, dass es zu viele Krimis und zu viel Talk gibt. Welche Programmphilosophie vertreten Sie? Was ist aber auch zu tun, um das Quoten-Delta, das sich mittlerweile zum ZDF auftut, zu schließen?
Zur Wahrheit gehört: Ein hoher Gesamtmarktanteil heißt derzeit für alle Programme vor allem, dass man in den älteren Zuschauergruppen erfolgreich ist. Das ist wichtig, keine Frage. Mein Blick als BR-Intendant und ARD-Vorsitzender richtet sich aber auf die Zukunft, die sich verändernde Mediennutzung und damit auch auf die Mediatheken. Mit der neuen ARD Mediathek, derzeit schon in der Beta Version verfügbar, schaffen wir ARD-übergreifend beste Voraussetzungen. Hochwertige Serien und Dokumentationen gehören mit Sicherheit genauso in eine zukunftsgerichtete Mediathek wie unsere Klassiker, etwa der „Tatort“. Meine Programmphilosophie heißt kurz gefasst: Qualität, Relevanz, Hintergrund. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir im Bereich der Fiktion und der Dokumentationen hochwertige Produktionen brauchen, um gegen unsere neuen Wettbewerber antreten zu können. Wir sollten dabei ein breites Spektrum an Fiktion zeigen, denken sie nur an erfolgreiche Serien wie „Charité“ oder „Weissensee“. Im Aktuellen müssen wir Hintergründe noch besser erklären, um wirklich nah an den Menschen zu sein.
Stichwort: Sportrechte. Vor wenigen Jahren hieß es noch, die Öffentlich-Rechtlichen hätten alles. Jetzt wird, etwa was den Fußball betrifft, moniert, dass es zu wenig sei und auch da und dort über die Gebührenlegitimation diskutiert. In Österreich hat ORF-Chef Wrabetz, grob gesprochen, an die Politik appelliert, sie möge die Bundesliga und Champions League über Anwendung des Fernseh-Exklusiv-Rechte-Gesetzes wieder ins Free-TV bringen.Was ist aus Ihrer Sicht die Funktion der Öffentlich-Rechtlichen in diesem Bereich?
Zunächst muss ich widersprechen: Schon 2007, also vor mehr als zehn Jahren, hatte die EU-Kommission in einer umfassenden Untersuchung festgestellt, dass die Sportrechte in Deutschland gleichmäßig zwischen privaten und öffentlich-rechtlichen Sendern aufgeteilt waren. Seitdem hat sich die Situation deutlich zugunsten des privaten Fernsehens verschoben, allerdings nicht zwingend nur zu Gunsten des Pay TV. Drei Viertel der Fußballländerspiele der deutschen Nationalmannschaft sind inzwischen bei RTL, ebenso die Europa League. Boxen und Motorsport finden sich inzwischen ebenfalls vor allem bei RTL und Sport1. Die NFL, deren Super Bowl Finale wir früher erfolgreich übertragen haben, findet sich nunmehr mit vielen weiteren Spielen bei ProSiebenSat.1. Bei der Handball-WM haben wir Grund zur Annahme, dass diese 2019 zurückkehren könnte ins Free TV, vielleicht auch zu uns, wenn der Preis stimmt. Der Sportrechte-Etat der ARD ist nicht zuletzt aufgrund unserer Sparbemühungen seit Jahren streng gedeckelt. Aber bestimmte Sportereignisse – denken Sie zum Beispiel an die Olympischen Spiele und die Paralympics - haben nun einmal einen sehr hohen gesellschaftlichen Wert, verbinden die verschiedenen Teile und Schichten der Bevölkerung, Jung und Alt, arm und reich, Männer und Frauen, Menschen mit und ohne Behinderungen. Der Sport hat ein tiefgreifend integratives Potential, das für Deutschland von großer Bedeutung ist. Ich halte es daher auch für richtig, dass wir aufmerksam die Entwicklung in den kommenden Jahren verfolgen, etwa bei der Fußball-Champions League.
Wenn das Öffentlich-Rechtliche eine Zukunft haben will, muss es sich auch um junge Menschen bemühen. Im Herbst 2016 wurde das junge, nur online verbreitete Content-Netzwerk „funk“ von ARD und ZDF aufgeschaltet. Wie ist dessen Bilanz, was muss noch folgen?
Zur Bilanz: In fast zwei Jahren „funk“ konnte bereits viel erreicht werden – im Hinblick auf Views, Abonnenten, Bekanntheit, Themen und Erfahrungen. Es gibt bei „funk“ mittlerweile über 60 Formate, die die Bereiche Information, Orientierung und Unterhaltung bedienen und steigenden Zuspruch verzeichnen: Im zweiten Quartal gab es auf YouTube mit allen Formaten 240 Millionen Abrufe, auf Facebook mit allen Formaten 30 Millionen Abrufe. Die Abonnements zählen allein auf YouTube insgesamt 7 Millionen Follower. Eine Bekanntheitsstudie vom November 2017 zeigt, dass bereits 25 Prozent der 14- bis 29-Jährigen nach einem Jahr das Angebot „funk“ kannten. Darüber hinaus freut uns, dass wir relevante Themen und Diskussionen durch das Content-Netzwerk setzen konnten, zum Beispiel mit einer Dokumentation über ‚Hater‘ und Trolle im Netz. Einzelne Formate haben bereits renommierte Auszeichnungen wie den Grimme-Preis erhalten. Der Erfolg von „funk“ zeigt, dass die Öffentlich-Rechtlichen im Leben von jungen Menschen sehr wohl relevant sind. Ich würde mich freuen, wenn dieses innovative Angebot weiterhin so engagiert die junge Zielgruppe erreicht – das ist unser Anspruch und auch der Auftrag von „funk“.
Ihr Blick von außen auf den Rundfunk-Zwerg Österreich, wo die Medienpolitik möglichst lange den ORF geschützt hat.
Der ORF hat in mancherlei Hinsicht durchaus Vorreiterfunktion. Beispiel Trimedialität: die Auslandskorrespondenten des ORF berichten in der Regel schon deutlich länger für Fernsehen, Hörfunk und Online gleichzeitig, die Kolleginnen und Kollegen der ARD – die freilich deutlich mehr Programme zu beliefern haben - gehen nun in die gleiche Richtung. Oder nehmen Sie die „Austria Videoplattform“, über die auch der ORF Videocontent mit privaten Medienhäusern austauscht. Das ist etwas ganz anderes als die wesentlich größer gedachte europäische Qualitätsplattform, aber das ist ausbaufähig und ich halte es auch als Modell für Deutschland für diskussionswürdig. Am Ende werden wir möglicherweise ein vielfältiges Angebot verschiedener Plattformen in Europa haben, an denen sich auch die ARD in vielfältiger Weise beteiligen wird.
Vielen Dank.