Kultur

Dinev: Wo die "Engelszungen" herkommen

Miro, Mann aus Marmor, mit Flügeln, Cordhose und Handy: Ein Grabstein auf dem Wiener Zentralfriedhof. Die ersten Sätze aus Dimitré Dinevs Roman "Engelszungen" erzählen von ihm. Hier, auf dem Friedhof in Simmering, fand Dinev die ersten Worte dafür. "Ich traute meinen Augen nicht. Am selben Abend, als ich das Grab entdeckt hatte, traf ich einen Freund und sagte: 'Heute hab ich Miro getroffen.' Seither trage ich immer ein Foto von dem Grab mit mir."

Der Wiener Zentralfriedhof ist voll von Geschichten. Eine illustre Gesellschaft liegt in Miros Nähe. Eine donauschwäbische Dichterin, verwitwete Gräfinnen und ein k.u.k. wirklicher Geheimrat. Und ein Direktor der Wiener Bestattung. Seit Kurzem ruht auch der ehemalige Boxweltmeister Edip Sekowitsch nebenan. Sekowitsch wurde 2008 vor seinem Gürtel-Lokal gegenüber dem Südbahnhof mit fünf Messerstichen attackiert, er verblutete auf dem Gehsteig.

Die Erde rieselt

Gräber und Begräbnisrituale sind von großem Interesse für Dinev. Wenn er in eine Stadt kommt, wird gleich der Friedhof besucht. Dinev ist ein freundlicher Mann, versonnen und verschmitzt, der seine Erzählungen gerne mit herzlichem Lachen untermalt. Aus Bulgarien, von wo er vor mehr als 20 Jahren nach Österreich kam, gibt es Unzähliges über Begräbnisse und dazugehöriges Brauchtum zu berichten. "Ich kenne Musiker, die mit Ihrem Kassettenrekorder begraben wurden. Während die Erde ins Grab rieselte, spielte die Musik. Irgendwann war's zu, man hat nichts mehr gehört. Vielleicht hat die Musik auch noch ein paar Tage im Grab weitergespielt."

Dinev erzählt, wie er schreibt. Die Sprache ist druckreif, ausdrucksstark und am Schluss gibt es meistens eine Pointe. "In Georgien gibt es Gegenden, wo die Toten, bevor sie begraben werden, in ihrer Wohnung in ihrer Lieblingsstellung
aufgebahrt werden. Ich habe von einem gehört, der lag immer so gerne in der Wiese. Als er gestorben ist, hat man ein Stück Wiese in die Wohnung gelegt und ihn dort seitlich, mit angewinkelten Beinen hingelegt. Er lag dort, als wäre er eingeschlummert, die Leute sind gekommen und haben sich verabschiedet."

"In Bulgarien besucht man die Toten zwei Mal im Jahr. Oft deckt man das Grab mit einer Tischdecke und speist dort. Man unterhält sich mit dem Verstorbenen, prostet ihm zu. Ich finde es sehr tröstlich, zu wissen, dass das Gespräch nicht unterbrochen wird durch den Tod. Und die Leute erzählen dir aus dem Grab, was da gerade passiert." Und wieder so ein herzliches Lachen.

Warten, rauchen

"Totenwache gibt es ja in Wien nicht mehr, oder? Ich finde das unverständlich. Die Bulgaren drucken sehr gerne Nekrologe, also Todesanzeigen mit einem Foto von dem Toten und ein paar Versen - es gibt eigens darauf spezialisierte Dichter! Und diese Todesanzeigen kleben sie zum Beispiel an Bushaltestellen: Die ganze Wand ist voll mit Todesanzeigen. Während du auf den Bus wartest und eine rauchst, kannst du dich damit auseinandersetzen."

Dinev geht auch gern auf den Friedhof der Namenlosen im Alberner Hafen, um den sich einst der rührige Herr Fuchs kümmerte, der die Geschichten der Wasserleichen kannte, die dort angeschwemmt wurden. "Das Schicksal der Toten: Sie werden nie trocken. Zuerst sind sie im Wasser ertrunken und jetzt wird der Friedhof ständig überschwemmt, " seufzt Dinev, schmunzelnd.

Unlängst hat Dinev seine verstorbene Freundin Lisi Steiner am Friedhof Baumgartner Höhe besucht. "Wir haben einander schon zu ihren Lebzeiten immer Witze erzählt.Wenn ich jetzt zu ihr ans Grab gehe, erzähle ich ihr immer einen neuen Witz. Und ich rauche mit ihr. Sie war bis zu ihrem Tod mit 85 intensive Raucherin. Letztens hab ich eine Zigarette im Grablicht versteckt, die ist schön ausgebrannt. Die Lisi hat damit sicher mehr Freude gehabt als mit einer Kerze."

"Sein ganzes Leben kann man über den Tod reden. So lange man lebt." Er will in Wien begraben werden: "Ich hoffe, dass ich viel Besuch bekomme, dass mich jemand anspricht." Selten hat man beim Thema Tod so viel gelacht wie im Gespräch mit Dimitré Dinev. Schade, dass man dieses Lachen beim Lesen nicht hören kann.

Seit Ottos Tod ist noch mehr los

Das Interview mit Dinev, das der KURIER hier auszugsweise bringt, stammt aus "Wien/Vienna" von Barbara Mader und Stephan Boroviczeny. Es hat noch mehr Geschichten übers Sterben. Und über Marktfrauen, Boxer ... Es sind Porträts einer Stadt. In der schlankeren und günstigeren Variante - weniger Fotos - heißt das Buch "Wiener Ansichten".

Seit Ottos Tod ist die "Kaisergruft" noch mehr frequentiert; sozusagen. Gigi Beutler ist die beste Begleiterin. Man kann sie buchen und/oder ihr aktualisiertes Büchlein lesen. Fünfte Auflage!

... und auf den Wiener Friedhöfen zu ebener Erd' hat Gerd W. Götzenbrucker "Engel" aufgespürt. Kunst, die in Vergessenheit geriet. Auch die Bildhauer aus der Belle Epoque und des Jugendstils nennt er.