Kultur

Die Möglichkeit einer besseren Welt

Die Suche nach einem besseren Leben ist so alt wie wir. Ebenso wie die Erzählungen von Krieg, Flucht und Vertreibung. Betrachtet man sie mit rein literaturhistorischem Interesse, dann erzählt wahrscheinlich schon die Bibel genau diese Geschichte.

Die Bilder, die Mitteleuropa in diesen Tagen einholen, wirken in ihrer archaischen Schrecklichkeit beinahe unwirklich. Nachgerade dramatisch überhöht. Doch das Drama Menschsein ist, und das mag eine Binsenweisheit sein, immer schon schlimmer gewesen als alles, was sich Literatur und Kunst dazu ausdenken können. Dennoch versuchen sie es: Filmen über das Drama von Lampedusa oder die Tragödie von Calais gelang es, anhand von Einzelschicksalen die Tragweite des Schreckens begreifbar zu machen. Zuletzt etwa Philippe Liorets erschütterndem Drama "Welcome" (2009), in dem der junge Bilal schwimmen lernen will, um den Ärmelkanal zu durchqueren. Er wird sterben und wir denken an ihn, wenn wir die Tausenden Menschen sehen, die dieser Tage den Eurotunnel belagern, um von Calais nach Großbritannien zu gelangen.

Harmloser und dennoch bewegend geriet Delphine Coulins Roman "Samba für Frankreich" – voriges Jahr unter dem Titel "Heute bin ich Samba" mit dem "Ziemlich beste Freunde"-Star Omar Sy verfilmt: Es ist die Geschichte des 19-jährigen Samba Cissé, der aus dem bürgerkriegsversehrten Mali nach Frankreich flüchtet, wo er sich eine Zukunft erhofft. Die wochenlange Flucht über das Meer, die er mit knapper Not überlebt, ist nur der Beginn einer Odyssee für den jungen Mann, der glaubt, mit der Ankunft in Paris die Schrecken hinter sich gelassen zu haben. Der Traum von Europa, er endet im ziellosen Leben eines "Sans-Papiers", eines ewig Heimatlosen ohne Papiere.

Das Geschäft Hoffnung

Ebenfalls im Vorjahr erschien die beeindruckende Graphic Novel "Unsichtbare Hände", die eine fiktive, aber exakt dokumentierte Geschichte über das Geschäft mit der Hoffnung erzählt. Der Hoffnung jener, die versuchen, über das Mittelmeer in das verheißungsvolle Europa zu kommen. Einen wie Rashid, der in den Armenvierteln von Tanger um das tägliche Überleben kämpft und die illegale Einreise in die Europäische Union versucht, würde man heute schlicht "Wirtschaftsflüchtling" nennen. Für den Traum von einem besseren Leben verpfändet er seine Zukunft: Als "Schuldknecht" ohne Rechte muss er auf den Treibhausplantagen im spanischen Almeria die Kosten für seine Reise abarbeiten. Der finnische Autor und Illustrator Ville Tietäväinen erzählt mit Rachids Leidensweg eine Geschichte, wie sie so oder so ähnlich nahezu täglich passiert. Er hat in Marokko und Spanien recherchiert und mit Flüchtlingen, Schwarzarbeitern, Grenzbeamten und Menschenhändlern gesprochen.

Anfänge Israels

Der Klassiker der Fluchtliteratur schlechthin ist Leon Uris Wälzer "Exodus", der von den Anfängen Israels erzählt. Hintergrund ist die wahre Geschichte des Flüchtlingsschiffes "Exodus", eines ehemaligen Vergnügungsdampfers, der zum Flüchtlingsschiff wurde: Tausende Holocaust-Überlebende versuchten nach dem Zweiten Weltkrieg, ins "Gelobte Land" einzuwandern, doch das war bis zur Staatsgründung Israels im Mai 1948 illegal. Die Briten, unter deren Mandat das Gebiet stand, hatten Einreiseverbot verhängt, eine Seeblockade errichtet und in Zypern Auffanglager für jüdische Emigranten eingerichtet. 4554 Menschen befanden sich auf dem nur für 300 gebauten Dampfer "Exodus", der versuchte, Israel zu erreichen. Kinder, Greise, KZ-Überlebende. Die Briten rammten das überladene Flüchtlingsschiff, versuchten zunächst, es auf seiner Fahrt nach Palästina zu stoppen, schleppten es später nach Haifa. Die Passagiere durften nicht bleiben, gelangten auf ihrer Odyssee über Frankreich nach Hamburg. Kein Land wollte sie aufnehmen. Die Flüchtlinge wurden in ehemaligen KZ interniert. Erst auf Intervention der USA wurden sie freigelassen, viele von ihnen versuchten später wieder, nach Palästina zu gelangen. Hier setzt Leon Uris’ legendärer Roman ein, der 1958 in Englisch herauskam und später in 50 Sprachen übersetzt wurde – "Exodus" war eines der meistverkauften Bücher seit "Vom Winde verweht".

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Otto Preminger verfilmte den Roman 1960: Den Hauptprotagonisten Ari Ben Kanaan spielte Paul Newman. Das ließ niemanden kalt, wurde jedoch mit gemischten Gefühlen aufgenommen. Das zionistische Epos gilt zwar als Klassiker, wurde aber, ebenso wie das Buch, von manchen als einseitig, sprich zu zionistisch empfunden.

Auf nach Montevideo

Neu wieder aufgelegt wurde nun der Reisebericht des italienischen Schriftstellers Edmondo de Amicis. 1884 bestieg der aus Ligurien gebürtige Autor ein Schiff, das sich auf den Weg nach Montevideo machte. Mit 1800 Menschen an Bord. Es war zu einer Zeit, als die Welt gewaltige Migrationsbewegungen erlebte. Man stand am Anfang jener Epoche, als Burgenländer nach Chicago, Schweizer nach Pennsylvania und Schweden nach Minnesota auswanderten.

Die Emigrantenschicksale meist italienischer Bauern und Wanderbeiter beschreibt De Amicis in seinem wiederentdeckten Reisejournal "Auf dem Meer": Vor mehr als 130 Jahren machte man sich an Bord der "Galileo" auf den Weg nach Argentinien und Uruguay, um ein lebenswerteres Leben zu finden. Das menschliche Panorama an Bord, schreibt der Schriftsteller Erri de Luca in seinem Nachwort, sei groß: eine ganze Stadt zusammengepferchter Menschen, die darauf warten, anzukommen.

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Im Gepäck die Wurzeln eines Olivenbaumes. Im Bordbuch verzeichnet folgende Ereignisse: ein Tod, eine Geburt, ein Sturm über dem Äquator. Der Unterschied zu heute: Damals wurden weniger als zwei Prozent der Ankommenden abgewiesen, schreibt De Luca. Heute würden allein zwölf Prozent ertrinken. Der Fortschritt, den die moderne Welt für sich beansprucht, darf somit bezweifelt werden.