Kultur

David Mitchell: "Krise gehört zum Menschsein"

In seinem Roman „Der Wolkenatlas“ entwarf er ein düsteres Zukunftsszenario. Dem KURIER verriet David Mitchell, inwiefern er trotzdem Optimist ist.

KURIER: Wissen Sie noch, wann Sie das erste Mal über die Zukunft nachgedacht haben?
David Mitchell:
Ich kann mich gut daran erinnern, dass ich als Bub vor der Unendlichkeit Angst hatte. Sie schien mir wie ein schwarzes Loch, in das man fallen und nie den Boden erreichen würde. Vielleicht kam diese Angst von einem Science-Fiction-Film, den ich als Kind sah. Es ging darin um einen Mann, der nie aufhörte, zu schrumpfen. Eine anschauliche Version des Zenon’schen Pfeil-Paradoxons (Philosophie über die Wirklichkeit von Bewegung).

Sind Krisen ein fruchtbares Umfeld für literarische Albtraum-Visionen?
Krise gehört zum Menschsein. Allerdings steuern wir mit der Zerstörung der Biosphäre und unserer Abhängigkeit von Erdöl auf eine Krise bisher ungeahnten Ausmaßes zu.

Sie haben Literatur studiert. Wurden Sie von Klassikern wie Morus’ „Utopia“ beeinflusst?
Den muss man mögen, obwohl sein „Utopia“ heute reichlich seltsam klingt. Auch Platons „Politeia“ hat mich beeinflusst. Nicht zu vergessen „Mad Max 3“ – ein Film, der anschaulich darlegt, wohin die Energie-Krise führen könnte. Alle Zukunftsvisionen sind Utopien oder Dystopien. Die Welt wird besser, oder sie wird schlechter.

Ist optimistische Utopie überhaupt möglich, ohne in den Kitsch abzugleiten?
Ja. Ursula le Guin’s „Planet der Habenichtse“ ist eine plausible, brüchige Utopie basierend auf den Ideen einer sozialistischen Anarchie. Die unwirtliche Natur des Planeten ermöglicht eine Gesellschaft. Ein derartiges Szenario ist in Wien oder Manchester schwer vorstellbar. Das ist okay. Utopien sind nicht dazu da, tatsächlich zu existieren.

Derzeit scheint es unter Intellektuellen in Mode, schlimmste Szenarien über die technische Zukunft zu erstellen. Von Thomas Pynchon bis Jonathan Franzen, der die Techno-Welt verdammt und Salman Rushdie kritisiert, weil er auf Twitter ist. Der wiederum Franzen im „Elfenbeinturm“ sitzen sieht. Ist das überhaupt relevant? Und sind Sie auf Twitter?
Nein, auch nicht auf Facebook, aber ich würde niemanden dafür kritisieren. Ich bin auch nicht der Meinung, dass die, die da nicht mittun, im Elfenbeinturm sitzen. Mir ist bloß meine Privatsphäre wichtig. Und ja, soziale Netzwerke sind relevant, wenn man von der Zukunft spricht, weil sie das Kommunikationsinstrument der Stunde und die Antwort auf die Frage: Wer bin ich? sind.

Sie haben einmal gesagt, dass Sie froh sind, nicht zu wissen, was nach unserem Tod passiert. Meinen Sie das ernst?
Religiöse Menschen behaupten, sie wüssten es. Mir ist das suspekt. Ich habe den Verdacht, dass nach dem Tod gar nichts passiert. Aber ich lasse mich gern überraschen.

In Anbetracht Ihrer Wahrnehmung der Gegenwart: Sind Sie Optimist?
Ja, insofern, dass ich meine Kinder zum Spielen rausschicke, ohne sie wie Michelin-Männchen einzupacken. Ich bin aber pessimistisch, was den Anstieg von Atomstrom anbelangt; was die Möglichkeit einer demokratischen Republik in Afghanistan betrifft und die Wahrscheinlichkeit, dass unsere Enkel so angenehm leben wir wir es tun. Pessimistisch bin ich auch, was das Abschneiden der englischen Nationalmannschaft bei der Fußball-WM in Brasilien betrifft.

Das Literaturfestival „Welt – wohin“ fragt nach Szenarien für das 3. Jahrtausend. Eröffnungsgast am Mittwoch war David Mitchell. Donnerstag spricht der maghrebinische Autor Tahar Ben Jelloun über die Zukunft der arabischen Welt, Samstag ist Jonathan Lethem zu Gast.

David Mitchell: Der 45-jährige Brite denkt viel über das Scheitern des Individuums im 21. Jahrhundert nach. Unter anderem in „Wolkenatlas“ (verfilmt mit Tom Hanks) und in „Der dreizehnte Monat“.

Szenenfotos von "Cloud Atlas":

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