Kultur

Charlotte Wells über ihr Filmdebüt "Aftersun“: Sehnsucht nach Berührung

Vater und Tochter checken in ihr Hotel an der türkischen Riviera ein. Das gebuchte Zimmer mit zwei Betten ist leider schon vergeben. Die beiden müssen sich ein Doppelbett teilen.

Vater und Tochter im selben Bett – folgt jetzt eine Geschichte über Missbrauch?

Nein, keineswegs.

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Stattdessen erzählt „Aftersun“ (derzeit im Kino) die Geschichte einer Urlaubsreise, die das elfjährige Scheidungskind Sophie (Frankie Corio) mit seinem jungen Vater Calum (Paul Mescal) Ende der 90er-Jahre unternimmt. Die Sonne scheint, das Meer leuchtet blau – und trotzdem beginnt das Mädchen zu ahnen, dass ihr Vater von einem dunklen Schleier der Melancholie umfangen ist.

„Mir war klar, dass das Publikum womöglich glaubt, ich werde eine düstere Geschichte erzählen, die in Richtung Missbrauch geht“, sagt Charlotte Wells im KURIER-Interview: „Es ist traurig, dass man fast schon automatisch an Übergriffe denkt, wenn man von einer Vater-Tochter-Story hört. Ich aber wollte eine sehr authentische und unschuldige Geschichte über eine Beziehung zwischen Vater und Tochter erzählen. Insofern habe ich mich dem Thema ganz besonders vorsichtig angenähert, um falsche Assoziationen zu vermeiden.“

„Aftersun“ feierte heuer in Cannes Premiere und warf sein Publikum um. Seitdem wird das zartfühlende Coming-of-Age-Drama als Geheimtipp und Charlotte Wells als neues Talent am Filmhimmel gehandelt. Zu Recht.

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Ursprünglich wollte die in Schottland geborene Charlotte Wells, Jahrgang 1987, eine Karriere als Filmproduzentin einschlagen. Als sich ihr aber die Möglichkeit bot, selbst Regie zu führen, „habe ich mich ins Filmemachen verliebt und den Job gewechselt“. Sie studierte Film an der New York University und schloss ihr Studium 2017 ab.

Verlust

Bereits in ihrem autobiografisch gefärbten Kurzfilm „Tuesday“ setzt sich Wells mit dem Verlust einer Vaterfigur auseinander; auch „Aftersun“, ihr Langdebüt, beschäftigt sich, wie sie selbst sagt, „mit dem Thema Trauer“; denn der Urlaub, den Sophie mit dem Vater unternimmt, ist womöglich der letzte.

Sie habe durch alte Familienalben geblättert und sei dabei auf Fotos von ihrem Vater gestoßen, erzählt Wells: „Es war verblüffend zu sehen, wie jung er auf diesen Bildern aussieht. Sein Anblick hat mich zu der Geschichte von ,Aftersun‘ inspiriert, und ich habe begonnen, meine eigenen Erinnerungen ins Drehbuch einfließen zu lassen.“

Reale und imaginäre Erinnerungen spielen eine zentrale Rolle in „Aftersun“. Tatsächlich hat die mittlerweile erwachsene Sophie ihre Erinnerungen an den gemeinsamen Urlaub mit ihrem Vater in Camcorder-Aufnahmen gespeichert, wie sie in den 90er-Jahren besonders populär wurden.

Das körnige Material verleiht den Bildern eine ganz eigene, haptische Qualität. Inhaltlich verstärkt die Regisseurin diesen Eindruck: Die Sehnsucht danach, etwas zu berühren, was verloren ist. Wiederholt zeigt sie Szenen, in denen das Streichen über Oberflächen, das Halten von Händen eine zentrale Rolle spielen: „Ich glaube“, sagt Charlotte Wells, „dass mein Film ganz stark davon handelt, etwas angreifen und festhalten zu wollen, was sich nicht mehr festhalten lässt.“