Kultur

Cannes: Coen-Brüder mit Meisterstreich

Den bislang größten Ansturm auf eine Filmpremiere in Cannes erlebten am Wochenende die Coen-Brüder. Lange vor Einlassbeginn drängten sich Massen von Journalisten im strömenden Regen vor dem Festivalpalast unter ihren Schirmen zusammen und stachen sich dabei gegenseitig fast die Augen aus. Doch „Inside Llewyn Davis“, der neueste Meisterstreich von Ethan und Joel Coen, war das Wasserbad mehr als wert und gilt bislang als der Lieblingsfilm der Kritiker: Unglaublich witzig, dabei aber immer von tieftrauriger Melancholie durchdrungen, erzählen die Coens aus dem glücklosen Leben des fiktiven Folksinger Llewyn Davis.

Oscar Issac spielt seinen nicht immer sympathischen Versager mit der Niedergeschlagenheit eines geprüften Hiob. Egal was er anfängt, es geht schief ­– sogar die Hauskatze seiner Gastgeber geht ihm verloren. Seine Live-Auftritte mit gefühligen Folkssongs, die die Coens immer von Anfang bis zum Ende durch spielen, haben zwar Anhänger, aber keinesfalls Fans: „I don’t see money here“, sagt einer der Musik-Produzenten – und sogar Llewyn Davis versteht, was er meint. Zu den Höhepunkten des Films zählt ein Gesangsauftritt mit Justin Timberlake, der als braver Bube in die Gitarrensaiten schlägt und gemeinsam mit seinen zwei Kollegen einen echten Hit trällert. Das kam so beschwingt und mitreißend daher, dass das Publikum spontan in Szenenapplaus ausbrach.

Brillanz

Mit handwerklicher Genauigkeit und penibler Liebe zum Detail lassen die Coens die 60er Jahre in New Yorks Greenwich Village aufleben. Jede Einstellung ist von derartiger Brillanz, dass man am liebsten auf Stopp drücken würde, um sie länger zu studieren. Doch nicht opulenter Ausstattungswahnsinn, sondern vielmehr die Fähigkeit, eine ganz spezifische Atmosphäre herzustellen, macht „Inside Llewyn Davis“ so genial.

Ganz am Ende hat Llewyn noch einmal einen Auftritt in seinem Stammlokal. Der Applaus ist wohlwollend, wie immer, aber nicht begeistert – auch wie immer. Nach ihm tritt ein Unbekannter auf und beginnt zu singen. Es ist die schnarrende Stimme von Bob Dylan, die das Generationenband durchschneidet und eine neue Ära der Folkmusik einläutet.

Husten und amüsanter Höhepunkt

Dass sich ein Gutteil der Journalisten offenbar im Regen verkühlt hatte, machte sich am nächsten Morgen in einer Vorführung von Serge Bozons skurriler Komödie„Tip Top“ bemerkbar: Noch während des Vorspanns ging ein derartiges Hustenkonzert los, dass man sich in einem Sanatorium für Lungenkranke wähnte. „Tip Top“, eine Farce mit Isabelle Huppert war ein amüsanter Höhepunkten des Festivals und lief in der „Quinzaine“. Erzählt wird die Geschichte zweier Polizistinnen – gespielt von Huppert und Sandrine Kiberlain – die in der Provinz den Tod eines algerischen Informanten investigieren. Besonders Hupperts zackige Verhörmethoden (die darin bestehen, das Gegenüber nie sprechen zu lassen) erweisen sich als ungewöhnlich – noch mehr allerdings ihr Sexleben: Das Liebesspiel mit dem Ehemann gleicht einer Schlägerei, so dass beide danach aussehen wie nach einem schweren Verkehrsunfall. Tropfweise läuft Huppert das Blut über den Nasenrücken und wird von ihr liebevoll mit der Zunge aufgefangen.

Bozons Witz besteht darin, Standardsituation wie Verhöre oder auch einfach nur normale Gespräche einen Tick zu überdrehen und ihnen damit eine surreale Ebene zu verleihen. Dadurch entsteht eine latente Hysterisierung einer ganz normalen Polizei-Story, die sich ins Doppelbödige verschiebt – und zum Beispiel das Verhältnis zwischen Franzosen und Algeriern problematisiert. Isabelle Huppert machte sich als leicht übergeschnappte Polizistin jedenfalls großartig – „wie in einer Haneke-Parodie“, wie jemand treffend bemerkte.

Nach dem Wochenende hat der Regen in Cannes übrigens in Sturm umgeschlagen. Interview-Locations am Strand mussten wegen der aufgepeitschten Wellen ins Hausinnere verlegt werden. Und wer genau hinsah, konnte Keanu Reeves, umringt von seinen Bodyguards, auf der Croisette vorbei fliegen sehen.