Kultur

Über Kutteln und ein „himmlisches Brausen“

Es kann eine ganz alltägliche Beobachtung auf einem Bahnhof sein: „Auf der anderen Seite des Bahnsteigs sah ich einen jener alten Bauern, die immer dieselbe Joppe tragen, unter der sie im Winter nicht frieren und im Sommer nicht schwitzen, weil ihr Körper das ganze Jahr über auf eine mittlere Lebenstemperatur eingestellt ist.“

Oder die Beschreibung eines Zustandes nach dem Genuss von Innereien im Übermaß: „Die ganze Nacht träume ich von Kutteln, die ich esse, und wie in einem Schlaraffenland des Ekels füllen sich die Teller, so viel ich auch hinunterwürge, von selbst wieder auf.“ (Die Beschreibung, wie die Kutteln wieder gingen, folgt.)

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Oder das fast akustische Malen des „himmlischen Brausens“ einer Orgel: vom Tröpfeln der ersten Töne „als würde ein lauer Regen niedergehen“ bis zum „Auf und Ab der Bässe, die hohen und tiefen Töne schienen wie aus verschiedenen Sphären zu stammen, sie begleiteten einander nicht , sondern standen, nein, bewegten sich gegeneinander, die Flöten des Beginns mit ihren sanften, sonor belegten Tönen wurden von schmetternd hellen Trompeten abgelöst, aus dem fernen Grollen war ein Brausen und endlich ein gewaltiges Dröhnen geworden ...“ – und am Ende trauern wir um den Organisten.

Karl Markus Gauß ist ein Meister der subtilen, punktgenauen und poetischen Beschreibung von Gesehenem und Erlebtem. In „Schiff aus Stein“ hat der Essayist scheinbar wahllos Erinnerungen ausgegraben und aneinander gereiht. In den fein gefeilten Miniaturen reist er durch Bahnhöfe und Cafés, träumt von Friedhöfen samt seinem eigenen Grab und vom Nahtod, besucht Städte in Istrien und dem früheren Jugoslawien (u.a. ein „Gelände, das keine Landschaft mehr war und es zu keiner Stadtschaft gebracht hat“), weiß über fremde Fotoalben zu erzählen, aus dem Altpapier gerettet und ein ganzes Leben enthaltend, und über „stolzbereite Großeltern“ bei einer Familienfeier im Mühlviertler Gasthof, „denen rundweg alles gefiel, was ihnen die Enkelinnen, einander unentwegt ins Wort fallend, zu berichten hatten“.

Geheime Ordnung

Die Erinnerungen hat Gauß übrigens mitnichten wahllos aneinander gereiht, wie er erzählt. Als die Episoden fertig waren, malte er die Titel auf großen Architektenpapieren auf und erstellte eine Ordnung und einen „für mich geheimen Zusammenhang“. Der gehört dem Autor und muss sich dem Leser gar nicht erschließen – der mag sich an der wie nebenher ziselierten Sprachkunst, an den in Worte gemalten Bildern, an den kleinen literarischen Pretiosen auch ohne Ordnung nicht sattlesen. Andreas Schwarz