Kultur

Der vernachlässigte Gigant

Giuseppe Verdi und Richard Wagner waren (und sind) im Jahr 2013 omnipräsent. Neuinszenierungen ihrer wichtigsten Werke an allen bedeutenden Opernhäusern, Bücher, CD-Boxen, Dokus und unzählige Veranstaltungen – die beiden Musik-Giganten wurden anlässlich der Wiederkehr ihres jeweils 200.Geburtstags weltweit gefeiert.

Ein anderer, ebenso bedeutender Komponist ist dabei fast zu einer Randerscheinung degradiert worden: Benjamin Britten, dessen Geburtstag sich am Freitag zum 100. Mal jährt. Die Wiener Staatsoper nimmt das zum Anlass für die Wiederaufnahme von Brittens Oper „Peter Grimes“ (ab Samstag ); auch in einigen Konzertprogrammen war und ist der Brite vertreten.

Doch wer war Britten eigentlich, was zeichnet diesen großartigen Musiker aus? Ganz einfach: Britten ist Musikgeschichte. Nicht nur in seiner Heimat England, die vor ihm nach Ansicht vieler Experten beinahe musikalisches Brachland war, sondern international. Und Britten kann man als Komponist nur verstehen, wenn man den Mensch dahinter sieht.

Denn der am 22. November in Lowestoft/Suffolk geborene und am 4. Dezember 1976 in Aldeburgh/Suffolk verstorbene Künstler war vieles: glühender Pazifist, deklarierter Vertreter gesellschaftlicher Außenseiter, offen bekennender Homosexueller, ein großartiger Dirigent und Pianist sowie ein leidenschaftlicher Naturliebhaber. Das Meer etwa – es zieht sich wie ein Topos durch Brittens Werke. In seinem Wohnort Aldeburgh gründete er ein eigenes Musikfestival, das bis heute eine Pilgerstätte für Britten-Verehrer ist.

Konsequenter Pazifist

Die meisten Tenorpartien in seinen Opern und auch seine Lieder schrieb er seinem langjährigen Lebensgefährten, dem legendären Tenor Peter Pears in die Kehle. Und ja, Europa hat er 1939 als Pazifist den Rücken gekehrt; mit dem „War Requiem“ setzte er allen Gefallenen beider Weltkriege ein erschütterndes Denkmal. Kirchenparabeln und diverse Chor- wie Orchesterwerke künden von Brittens Religiosität in einem erweiterten Sinne. Seine Opern sind einzigartig, denn Britten begründete seine eigene Musiksprache.

Stücke wie etwa „Paul Bunyan“, „Peter Grimes“, „The Rape of Lucretia“, „Albert Herring“, „Billy Budd“, „Gloriana“, „The Turn oft the Screw“, „A Midsummer Night’s Dream“, „Owen Wingrave“ und natürlich „Death in Venice“ sind in die Musikgeschichte eingegangen.

Sie müssten bloß häufiger gespielt werden ...

Zum Nachhören

Die ultimative Box

Wer alle Werke Brittens studieren will, ist mit der neuen Britten – The Complete-Works-Box (Decca) bestens versorgt. Auf 65 CDs (und einer DVD) sind alle Stücke zu hören. Wichtig: Oft ist Britten auch als (toller) Dirigent eigener Opern zu erleben. Peter Pears singt dabei sehr oft.

Neuere Aufnahmen

Das „War Requiem“ ist live von den Salzburger Festspielen 2013 (bei Warner) mit Netrebko, Bostridge, Hampson und Pappano am Pult erschienen. Tipp: Kammermusik mit Britten, Fischer-Dieskau, Rostropowitsch.

2005 gab er sein Debüt an der Wiener Staatsoper – mit Benjamin BrittensBilly Budd“. Ab 23. November dirigiert er am Ring, nämlich „Peter Grimes“: Der Brite und langjährige Musikdirektor der Dallas Opera Graeme Jenkins.

Was Britten so einzigartig macht? „Alles“, so Jenkins. „Die vollendete Verbindung von Musik und Text, dazu die Handlung – als Dirigent muss man da mit den Sängern und dem Orchester sehr sorgfältig arbeiten, um diese betörende Atmosphäre des ,Grimes‘ herstellen zu können.“

Der 1958 in London geborene Jenkins weiter: „Man darf ja nicht vergessen, dass es vor Britten so etwas wie eine britische Musiktradition kaum gab. Da war fast Jahrhunderte nichts. Und dann kommt dieses Genie und eckt gleich einmal gewaltig an. Ein Pazifist, ein Homosexueller, der Opern über eine verlogene Gesellschaft schreibt. Britten war immer die Stimme der Außenseiter, auch weil er sich trotz aller Erfolge und späterer Ehrungen als solcher gesehen hat.“

Und: „Eines ist all seinen Werken gemeinsam. Es geht immer darum, dass die Gesellschaft, die Welt der Erwachsenen die kindliche Unschuld zerstört. Das zieht sich wie ein Leitmotiv durch Brittens gesamtes Schaffen.“

Auch in „Peter Grimes“? „Natürlich, hier treibt eine bigotte Gesellschaft, unter deren Oberfläche aber ein Exzess den nächsten jagt, den Fischer Grimes konsequent in den Selbstmord. Man muss nur auf die Musik hören, die Britten seinem Grimes zugedacht hat. Da ist all die Schönheit, die Reinheit, die Natur drinnen – die ach so ehrenwerte Dorfgemeinschaft geht ins Bordell und säuft Bier. Wer Britten da lieber war, ist klar. Er hat dort hingeschaut, wo andere zu gern wegschauen.“