Kultur

Autor Jonathan Coe: "Beim Brexit ging es nicht um die EU“

Auch wenn es durch die doch erstaunliche Akutgegenwart übertönt wird: Der Brexit – wer erinnert sich? – war eine historische Weichenstellung in Europa, deren Folgen noch lange Auswirkungen haben werden. Und die auch längst in die Kultur ausgestrahlt hat.

Etwa in jenen Freundes- und Bekanntenkreis, den Jonathan Coe schon in zwei Büchern – „Erste Riten“ und „Klassentreffen“ – beschrieben hat. Nun hat er sie nochmal besucht – und herausgekommen ist „Middle England“, ein humorgeprägter Leuchtturm der rasch anwachsenden Brexit -Literatur.

Coe beschreibt darin das „mittlere England“, jene Menschen abseits der Zentren, die sich im Brexit, in der Wahl Donald Trumps und in vielen anderen populistischen Momenten ihre Stimme, ihren Platz in der Öffentlichkeit zurückgeholt haben. In Amerika werden diese Menschen, zwischen den liberal geprägten Küsten lebend, „flyovers“ genannt, die, über die man drüberfliegt.

Die politischen Verwerfungen, die deren Aufbegehren an der Wahlurne mit sich brachten, das war – sagt Coe im KURIER-Gespräch – für viele Liberale und Progressive ein Aufwachmoment: „Als ich am Morgen nach dem Referendum aufgewacht bin, war mein Hauptgefühl: Das Land, das ich geglaubt habe zu verstehen, ist ganz anders. Viel komplizierter, als gedacht. Ein, zwei Monate später entschied ich mich dazu, das Buch zu schreiben.“

„Übung im Zuhören“

„Middle England“, nun auf Deutsch erschienen (siehe Kritik unten), zu schreiben war für Coe eine „Übung im Zuhören“. Coes Rolle als Schriftsteller „war viel passiver als üblich. Ich habe den Stimmen meiner Charaktere zugehört und sie niedergeschrieben, anstatt ihnen vorgedachte Meinungen in den Mund zu legen“.

Dabei, so sagt er, waren durchaus Überraschungen zu erleben. „Viele Szenen in dem Buch wurden anders, als ich mir gedacht hätte. Es war reinigend, im Kopf von jemandem wie Helena, der Mutter von Ian, zu sein. Das ist kein Ort, an dem ich üblicherweise sein wollte. Als Autor aber musste ich das sein. Es war aufschlussreich für mich. Ich habe versucht, die Charaktere nicht zu verurteilen, obwohl ich denke, dass ich darin manchmal versagt habe.“

Boris Johnson hingegen, selbst Teil der Elite, „beurteilt und verurteilt die Menschen nicht“, sinniert Coe.

Aus England hört man, es sei DER Brexit-Roman. Bis zum Verlassen der EU zählt er hinauf, 2010, 2015, 2018, dann verschwindet „Old England“.

Ausgangspunkt ist eine restaurierte Mühle in der Pampas: in Mittelengland bei Birmingham, wohin sich der Londoner Benjamin Trotter (= der Autor, hat Jonathan Coe selbst gesagt) zurückgezogen hat, um endlich, nach 30 Jahren, seinen Roman zu vollenden.

Das darf man jetzt verraten: Er wird am Ende 7000 Seiten geschrieben haben. Sein Verlag wird dafür sorgen, dass er kürzt – bis nur 150 bleiben. Das Buch wird ein Erfolg.

Mit viel Personal, das um Benjamin Trotter kreist, bewegt sich „Middle England“ in die Problemzonen. Zu Rassismus, Arbeitslosen, Flüchtlingen; zur BBC, der man in der Provinz vorwirft, nicht für „normale“ Menschen da zu sein.

Jonathan Coe begibt sich zwar ernsthaft auf die Suche nach dem Lebensgefühl im Wandel. Aber es ist eine Gesellschaftskomödie, und da halten Episoden bei Laune wie zum Beispiel:

Es kündigt sich Sex an. Benjamin Trotter, 50 ist er, fragt seine alte Liebe Jennifer: „Wenn David Cameron tatsächlich ein Referendum über die EU-Mitgliedschaft abhält, was denkst du, wie es ausgeht?“

Da seufzt die Frau: „Meine Güte – ist das alles, was dich gerade beschäftigt?“

Und dann klappt es gar nicht, und man übersiedelt in einen Kleiderkasten wie jenen, in dem die Zwei vor 30 Jahren guten Sex hatten.

Jennifer sagt im Dunkeln: „Selbst wenn du auf diese Art keinen Steifen kriegst, kommen wir vielleicht wenigstens in Narnia raus.“ (In C. S. Lewis’ Büchern gerät man durch einen Schrank in die Welt von Narnia.)

Jonathan Coe hat Witz. Schärfe hat er nicht. Coe will verstehen, warum es zum Brexit gekommen ist. Er porträtiert und sagt nicht, dass der Brexit ein Fehler war (obwohl er es denkt).

Wem eine böse Satire lieber ist als Komödie, der hat es bei Ian McEwan eindeutig besser: „Die Kakerlake“ wacht als Premierminister auf, will die toten Ungezieferfreunde rächen und England ruinieren.

Peter Pisa

Ein Versagen, das sich in der echten Welt die progressiven Kräfte auch gerne umhängen: Man habe nicht genug zugehört, von oben herab zu den Menschen geredet, hieß es nach Brexit und der Wahl Trumps. Stimmt das?

„Der Fehler der Liberalen war nicht ihr Wertesystem, sondern ihr Tonfall“, sagt Coe. „Man kann keine politische Diskussion dadurch gewinnen, dass man dem anderen sagt: Du bist rassistisch. Oder: Du bist dumm. Auch wenn man denkt, dass man das belegen kann – es klingt ausschließlich wie eine Beleidigung. Die Liberalen müssen eine neue Art finden, mit den Menschen zu sprechen, mit denen sie grundlegend anderer Meinung sind.“

Er selbst habe zwar seine Werte nicht verändert, sagt der Autor. Aber „was sich verändert hat, ist mein Gefühl, wie ich diese äußern soll. Wie ich sie mit anderen Menschen teilen soll. Wie ich andere Menschen von ihnen überzeugen soll.“

Nächstes Kapitel

Wie es jetzt weitergeht in der polarisierten britischen Gesellschaft? Coe betont: „Beim Brexit ging es eigentlich nie darum, die Europäische Union zu verlassen. Das Referendum hat vielmehr gezeigt, dass dieses Land in zwei völlig verschiedene Persönlichkeitstypen geteilt ist. Mit unterschiedlichen Einstellungen zu Identität, Multikulturalität, zur Political Correctness.“ Diese Entzweiungen „waren davor verborgen. Aber das Referendum hat diese Büchse der Pandora geöffnet. Und all das wird nicht einfach wieder verschwinden, weil wir die EU verlassen haben. Diese zwei Lager werden etwas anderes finden, um darüber zu streiten – das Coronavirus, den Klimawandel, Flüchtlinge. Es kann alles sein, das uns die Welt entgegenschleudert.“

Und obwohl „niemand weiß, was jetzt kommt“, ist Coe sicher: „Der vierte Teil des Buchs hat gerade begonnen“. Großbritannien habe ein Kapitel seiner Geschichte beendet, das nächste folgt. „Ich werde ihn schreiben, aber ich habe keine Ahnung, wie der aussehen wird. Es wird einen Abschluss geben, in zehn oder 15 Jahren.“