Mit dem Buch "Zeit, gehört zu werden" von Amanda Knox, das am Dienstag erscheint, wird wieder einmal ein wahrer Kriminalfall medienwirksam verkauft.
Eine kleine Farm im Nirgendwo von Kansas im November 1959. Die Polizei findet die Leichen der vierköpfige Familie Clutter. Zwei Einbrecher ermordeten den Vater, die Mutter, den Sohn und die Tochter bestialisch. Die Täter werden gefasst. Truman Capote besucht sie in ihrer Gefängniszelle und will beweisen, dass ein Tatsachenroman so spannend sein kann wie ein fiktionaler Thriller. „Kaltblütig“ nannte er 1967 seinen Roman und schuf damit nicht nur einen Klassiker der modernen Literatur, sondern „erfand“ ein neues Genre, das später als „True Crime“ bekannt wurde. Der New Yorker feierte das Werk als literarische Sensation und das Buch wurde trotz bzw. wegen der detaillierten Rekonstruktion der grauenhaften Morde zum Bestseller.
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Knapp fünfzig Jahre später veröffentlicht
Amanda Knox, die als Mordverdächtige in einem schlagzeilenträchtigen Justizdrama weltweit für Aufsehen sorgte, mit „Zeit, gehört zu werden“ ihre Geschichte. Die Amerikanerin studierte 2007 im italienischen
Perugia, als dort ihre britische Mitbewohnerin
Meredith Kercher mit durchschnittener Kehle, halb nackt und von Messerstichen übersät, tot aufgefunden wurde.
Knox und ihr damaliger Freund
Raffaele Sollecito beteuerten ihre Unschuld. 2009 wurden sie in einem Indizienprozess zu über 25 Jahren Haft verurteilt. 2011 sprach das Gericht die beiden in einem Berufungsprozess wegen fehlerhafter Beweise wieder frei.
Knox kehrte nach Hause zurück. In diesem März wurde der
Freispruch jedoch gekippt, der Prozess soll nun neu aufgerollt werden.
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Die Aufhebung des Freispruchs stellt nicht nur ein neues Kapitel in der italienischen Justizgeschichte dar, sondern "freut" auch die PR-Berater des Verlags -
Knox war mit einem Paukenschlag wieder in den Medien. Weltweit in aller Munde, druckte die
New York Times einige Zeilen und das
People-Magazinein erstes Interview. Am Veröffentlichungstag am Dienstag flimmert
Knox auch über die TV-Bildschirme und wird in einem Gespräch mit dem US-Sender ABC über ihre Erlebnisse berichten.
„Erinnerungen“ sind auch das, was es in dem Buch zu lesen gibt, heißt es von Seiten des Droemer-Verlags, der das Buch mit einer Startauflage von 50.000 Stück im deutschsprachigen Raum vertreibt. Wer darin ein Geständnis erwartet, wird enttäuscht, denn Knox „wolle Dinge richtigstellen“ heißt es in der New York Times. Auch ein Alibi hat sie parat. Sie habe mit ihrem Freund in dessen Wohnung Marihuana geraucht und einen Film geschaut, beteuert sie. Schlussendlich ist es aber wahrscheinlich egal, was Amanda Knox in ihrem Buch schreibt, die Leser sind so oder so neugierig. Neugierig auf die Geschichte dieser jungen Dame, der Unfassbares passiert ist – und die vielleicht Unfassbares getan hat.
Blick in die seelischen Abgründe
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Das Buch von
Amanda Knox wird ein Bestseller, da sind sich Verlage und Journalisten einig. Auch wenn es sich nur im weitesten Sinn um ein Buch des "True Crime"-Genres à la
Capote handelt, wird es wahrscheinlich aufgrund der medialen Strahlkraft des
Kriminalfalls gekauft werden. Der Gerichtspsychiater und Autor
Reinhard Haller kennt den Grund für die
Faszination für das Abgründige. „Jeder Mensch weiß, dass er in sich selbst auch böse, verdrängte und verschattete Anteile hat. Weil er diese kennenlernen will, blickt er in die seelischen Abgründe von Menschen, bei denen das Böse tatsächlich zum Durchbruch gekommen ist. Im Prinzip sind die Bücher von Verbrechern nichts anderes als Spiegel der eigenen, verdrängten Kriminalität.“ Kann man sich bei Krimis damit trösten, dass sie der Fantasie eines Autors entsprungen sind, funktioniert das bei „True Crime“-Geschichten nicht, erklärt
Haller weiter.
Mathias Illigen, der während einer Psychose seinen Vater erschlug und mit einem Plastiksack erstickte, erzählt mit „Ich oder Ich: Die wahre Geschichte eines Mannes, der seinen Vater getötet hat“ seine Sicht der Dinge und erklärt im Interview auch den Grund für die Faszination. „Wahre Geschichten handeln immer von echten Menschen mit Schattierungen in ihren Persönlichkeiten, die nicht produziert und gemacht sind. Man kann sie durch ein Buch ein Stück begleiten.“ Einen Unterschied sieht Illigen zwischen den Lesern in Amerika und im deutschsprachigen Raum. „Im anglophonen Raum hat 'True Crime' einen hohen Stellenwert, da der Outlaw als edler Held und freiheitsliebender Einzelkämpfer gilt. Bei uns ist das ganz anders. Bei uns ist es ein Tabu, ein mündiges Opfer oder ein konsolidierter Täter zu sein. Das irritiert sehr viele.“
Geld, Aufarbeitung oder Aufklärung?
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Illigen ist so ein konsolidierter Täter. Nach einiger Zeit in einer Psychiatrie, darf er wieder die Freiheit genießen und veröffentlichte seine Geschichte in einem Buch. „Wenn man nach Jahren des Freiheitsentzugs wieder in die Welt hinaus gespuckt wird, muss man irgendwie weiter machen. Man blickt auf sein Leben zurück und bemerkt dass es eine Geschichte erzählt, die es so noch nicht gibt. Als Kulturschaffender sieht man es nochmal anders. Nietzsche sagte, das Werk des Philosophen ist sein Leben. Es waren also berufsbedingte und zukunftsorientierte Gründe.“ Dass es auch finanzielle Gründe gab, bestreitet
Illigen aber nicht. Es ging natürlich „um alle drei Dinge. Aber zu aller erst, um das Zur-Sprache-Bringen eines Tabus.“
Reinhard Haller sieht die Beweggründe pragmatischer. „Um die psychologische Aufarbeitung geht es ganz sicher nicht. Schriftstellerei ist nicht gleichzusetzen mit therapeutischem Schreiben. Das Verfassen eines Buches kann höchstens oberflächlich der Aufarbeitung dienen. Die erforderliche emotionale, tiefgreifende Auseinandersetzung mit der Tat ist dadurch nicht möglich.“
Opfer gehen selten an die Öffentlichkeit
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Auf Seiten der Opfer sieht
Haller andere Gründe, denn „Opfer haben nur selten das Bedürfnis, ihre Geschichte öffentlich darzustellen. Dies würde eine Retraumatisierung, ein Aufreißen der nur langsam verheilenden Wunden bedeuten. Bei
Natascha Kampusch dürfte wohl eine Rolle gespielt haben, dass sie den zahlreichen Gerüchten ihr reales Erleben entgegensetzen und vielleicht auch zeigen wollte, dass diese leidvolle Geschichte die ihre gewesen ist.“
Was bei Opfern als auch bei Tätern gleichermaßen zutrifft, ist das „Bedürfnis, die Dinge klarzustellen.“ Gerade wenn Medien falsche Informationen verbreiten, vielleicht einen Falschen zum Täter machen. Vielleicht ist dies auch der Grund, warum Amanda Knox ihre Geschichte erzählt.
Die kolportierten vier Millionen Dollar vom amerikanischen Verlag HarperCollins für die Buchrechte halfen ihr sicher bei der Entscheidung. Und es ist garantiert nicht das letzte Kapitel in der Geschichte des „Engels mit den Eisaugen“.