"Alkohol nicht als Sprit, sondern Betäubung"
Von Marco Weise
Täglich geht man an ihnen vorbei – an den gnadenlos verrauchten kleinen Cafés, Branntweiner, Beisln oder – wie sie von den Gästen schlicht genannt werden – Hütten, in denen die Zeit scheinbar stehen geblieben ist. Der Fotograf Klaus Pichler und der Autor Clemens Marschall sind nicht vorbei, sondern hineingegangen, haben die gesellschaftlichen Paralleluniversen erforscht und in ihrem nun veröffentlichten Buch "Golden Days Before They End" dokumentiert.
KURIER: Verfolgt ihr mit dem Bildband ein bestimmtes Ziel?
Clemens Marschall: Das Ziel des Buchs ist, die Beislkultur, die zu großen Teilen im Verschwinden begriffen ist, zu dokumentieren, um sie zumindest in Buchform zu bewahren. Unser Konzept war, die Bar als Trennlinie zu sehen und alles davor – also Gäste und die Lokale selbst – zu fotografieren und das Personal dahinter zu interviewen, um die gleiche Geschichte aus zwei Perspektiven zu erzählen.
In welchem Zeitraum ist das Projekt entstanden? Wie viele Lokale habt ihr dafür besucht?
Klaus Pichler: Das Projekt entstand zwischen April 2012 und Jänner 2016. Wir haben weit über 100 Lokale besucht, wobei geschätzte 40 Prozent zum heutigen Zeitpunkt nicht mehr existieren. Im Buch sind um die 70 Lokale vertreten, entweder bei den Fotos oder als Wortspenden ihrer Besitzer oder Kellner.
Gab es so etwas wie Auswahlkriterien der Protagonisten, der Lokale?
Marschall: Zu Beginn waren wir noch relativ wahllos unterwegs, aber mit der Zeit ist ein Gefühl für die Lokale entstanden, die mit großer Wahrscheinlichkeit in absehbarer Zeit verschwunden sein werden – jene kleinen, unscheinbaren Orte, die man allzu leicht übersieht und die wirken, als wäre die Zeit in ihnen stehengeblieben. Wir haben unzählige Spaziergänge und Radtouren unternommen, in denen wir die Stadt systematisch nach Lokalen abgesucht haben, die in dieses Schema gepasst haben.
Wie schwer war es, die Menschen zu erreichen?
Pichler: Wir sind mit dem sprichwörtlichen "Herz auf der Zunge" in jedes einzelne Beisl gegangen und haben aktiv Kontakt mit den Besitzern und den Gästen gesucht. Gebraucht hat es dann in der Regel mehrere Lokalbesuche und viel Zeit, sodass die auch gemerkt haben, dass wir es ernst meinen und nicht für das schnelle Interesse reinrauschen. Deswegen haben wir auch fast vier Jahre daran gearbeitet.
Wie nähert man sich als Fotograf diesem Projekt?
Pichler: Mir war es wichtig, dass ich in den Lokalen selbst mit einer möglichst großen Ausrüstung unterwegs bin, damit ich auffällig bin und die Leute nicht denken, ich würde aus dem Hinterhalt fotografieren. Ich mag es überhaupt nicht, wenn man sich Fotos einfach nimmt, sondern für mich muss es immer eine Art Kooperation sein, und wenn sie nur ein paar Sekunden dauert. Den Blitz als Stilmittel habe ich deshalb gewählt, damit ich selbst durch den "Zuckerguss" des Blitzes auch auf den Fotos präsent bin und man daher auch spürt, dass die Bilder mit Einverständnis entstanden. Darüber, wie ich mich inhaltlich an die Leute annähere, habe ich nie wirklich nachgedacht, weil es für mich im Zentrum steht, dass ich Menschen mag und daher mit Empathie und Lockerheit vorgehe und eine Stimmung erzeugen will, in der sich die Leute wohlfühlen oder Spaß haben.
Einige Gäste zeigen sich freizügig. Musste man für die Veröffentlichung eine Erlaubnis einholen?
Pichler: Wir haben darauf geachtet, immer zu kommunizieren, dass die Fotos für ein Buch sind und dass die Leute auch merken, wenn sie fotografiert werden. Wir haben die gedruckten Fotos immer kurz danach in den jeweiligen Lokalen vorbeigebracht.
Wie viel Inszenierung, Komposition steckt hinter den Bildern?
Pichler: Komposition bestimmt sehr viel, weil ich schon genau geschaut habe, wo ich stehe, wie ich den Blitz halte, den Bildausschnitt wähle usw. Dafür gab es überhaupt keine Inszenierung, die ich bewusst vorgegeben habe – es hätte für mich nicht gepasst, irgendetwas zu inszenieren oder den Leuten zu sagen, was sie tun sollen. Es gibt aber einige Fotos, auf denen sich die Leute von selbst vor der Kamera inszeniert haben, dass sie also von selbst mit mir gespielt und irgendwelche Posen gemacht haben. Das ist oft der Stimmung geschuldet, denn die war manchmal sehr ausgelassen und fröhlich und dabei haben die Leute eine Art von "Improvisationstheater" vor der Kamera gespielt, ohne dass ich etwas dazu machen musste.
Pichler: Es gibt zwei Fotobücher, die für unser Projekt Vorbild waren, nämlich einerseits "Cafe Lehmitz" von Anders Petersen aus dem Jahr 1968 und andererseits "Wiener Runden/ Weinhaus" von Leo Kandl aus dem Jahr 1984. In beiden Büchern geht es um ähnliche Lokale, einmal in Hamburg, einmal in Wien, und uns hat interessiert, ob es diese Art von Lokalen nach 45 bzw. 30 Jahren immer noch gibt. Bei den ersten Recherchen haben wir gemerkt, dass es die Lokale wohl noch gibt, dass sie aber rapide weniger werden und wir uns beeilen müssen, wenn wir sie noch im geöffneten Zustand erleben wollen.
Wie viel Schnäpse musstet ihr ausgeben bzw. selber trinken?
Marschall: Obwohl man es vielleicht nicht vermuten würde, aber der Alkohol selbst war in den Lokalen nur selten ein Thema – uns kam vor, als wäre er selbstverständlich und deshalb wurde auch nicht groß darüber gesprochen. Klaus (Pichler, Anm.) zum Beispiel hat nie etwas außer Mineralwasser getrunken, weil er lieber nüchtern fotografierte, und das wurde auch akzeptiert oder sogar zu seinem Markenzeichen ("der Fotograf, der nichts trinkt"). Auch das Einladen bzw. Einladen lassen war nur sehr selten, weil die Leute wussten, dass sie die Fotos, die von ihnen entstanden sind, bekommen würden.
Pichler: Seltener als man denkt, und wenn, dann meistens ohne Vorwarnung und nur für ein paar Sekunden, bevor der Rest des Lokals eingreift und schlichtet. Im Großen und Ganzen ist es sehr ruhig und gesittet zugegangen und wenn sich irgendwelche Energien entladen haben, dann meistens in Form von Schmähführen und Blödsinn machen, nur selten als wirkliche Aggressionen. Die Gäste kennen sich ja meistens sehr gut untereinander, deshalb sind die Beisln relativ sicher, weil das Netz an Bekanntschaften und auch Einschätzungen sehr eng geknüpft ist.
Gibt es so etwas wie den typischen Gast in solchen Lokalen?
Marschall: Früher waren es Beamte, Arbeiter, Leute in Uniform, also auch Polizisten, Postler usw. Heute sind es eher Arbeitslose, die den Alkohol nicht als Sprit und Ansporn verwenden, sondern als Betäubung. Früher gab es die Generation, die arbeiten und trinken konnte, heute verlegt sich das eher nur aufs Trinken.
Zieht sich das Klischee vom morbiden Charme Wiens auch durch diese Beisln?
Marschall: Ja, auf jeden Fall, vor allem sprachlich und im Umgang miteinander. Es ist ein rauer Charme, der die Beisln auszeichnet, hinter dem sich viel Zuneigung und Sympathie verbirgt. Wenn der Wirt eine alte Frau mit den Worten "Hearst Hilde, alte Schastrommel, wie geht’s dir denn?" empfängt, dann ist das keine Beleidigung, sondern eine Bekundung der Sympathie. Wenn man das verstanden hat, merkt man hinter all dem Galgenhumor, wie sehr die Leute einander mögen und zusammenhalten.
In solchen Lokalen gibt es ja Stammtische. Was war da das große Thema, welche Ängste und Sorgen haben die Stammgäste?
Marschall: Stammtische in dem Sinn gab es nur in den wenigsten Lokalen, die wir besucht haben, da sie meist so klein waren, dass ohnehin nur zwei oder drei Tische drinnen standen. Stattdessen war das gesamte Lokal der Stammtisch, das heißt alle Gäste waren zu einer Gesprächsrunde verschmolzen und redeten von den unterschiedlichen Tischen aus miteinander. Thematisch war es die gleiche Bandbreite, die man wahrscheinlich überall findet – Arbeit, Geld, Fußball, Ausländer, Familie, Freunde, Smalltalk.
Oft herrscht in diesen Lokalen noch eine andere Sprache, das Wienerische mit eigenen Vokabeln. Gab es da Verständigungsschwierigkeiten? Welcher Ausdruck gefällt euch am besten?
Marschall: Nein, gab es nie. Auch wenn man nicht jedes Wort versteht, war die Message immer verständlich. Ab und zu lernt man ein neues Wort dazu, dass dann auch aus dem Kontext entschlüsselbar ist. Das Rotwelsch, also die Sprache der Unterwelt, ist leider eine aussterbende, wobei sie noch in manchen Lokalen so gesprochen wird, als gäbe es keine andere. Ein paar Wörter kennt man, andere nimmt man im Sprachschatz auf. Das war eine ziemlich bereichernde Sprachwelt, die wir da kennenlernen durften und auch im Buch pflegen. Schön ist natürlich das Wort „Hirntaler“ (Schlag auf die Stirn, Anmerkung).
Woran liegt es, dass es immer weniger Branntweiner gibt?
Pichler: Es wird bestimmt ein paar Lokale geben, die sich längerfristig halten werden – sei es durch gute Lage, einen geschickten Wirt oder dadurch, dass junge Menschen das Lokal für sich entdecken (was aktuell leider sehr selten passiert). Das Verschwinden der Beisln hat eine Vielzahl von Gründen: Die bisherige Stammkundschaft stirbt weg, die Wirte gehen in Pension und finden keine Nachfolger, die hohen Kosten einer Lokalübergabe durch die vom Magistrat geforderten baulichen Veränderungen, höhere Mieten, aktuell die Registrierkassenpflicht, die manche Wirte so sehr nervt, dass sie hinschmeißen. Und dann ist da noch das totale Rauchverbot ab 2018, das für viele Lokale existenzgefährdend werden wird, weil die Gäste sture Raucher sind.
Ein Satz, der besonders in Erinnerung geblieben ist?
Marschall: "Seit ich da bin, sind 128 Stammgäste gestorben." Gesagt hat das Hermine Horacek in der Weinstube Stumpergasse.
Edition Patrick Frey. 250 Seiten, 120 Abbildungen. 52 Euro.