Kolumnen

Über den Tellerrand: Der ganz normale steirische Dschungel

Ein Freund aus früheren Zeiten (Man kann sagen: ein alter Freund – aber er wurde erst fünfzig. Man kann sagen: Er ist noch immer ein Freund – aber wir sehen einander kaum mehr. Ich bevorzuge daher: Ein Freund aus früheren Zeiten) lud mich zu seinem Geburtstagsfest nach Sankt Radegund bei Graz ein. Das ist aus Wiener Sicht so exotisch wie der laotische Dschungel, aber man soll mit zunehmendem Alter der fortschreitenden Verengung des eigenen Lebensraumes entgegenwirken. Und so fuhr ich nach Sankt Radegund bei Graz. Öffentlich hätte die Anreise ähnlich lange gedauert wie in den besagten Dschungel, es ging sich aus Gründen des dichten Alltags nur das Auto aus.

Da mir nun schon das Abenteuer einer Bim-, Zug- und Busanreise verwehrt geblieben war, wählte ich für die Rückfahrt die Panoramaroute – und damit sind wir endlich beim Thema: Durch das Steirische Hügelland tingelnd saugte ich Orte wie Pischels-, Kleinpesen- und Hirnsdorf auf, inhalierte Einfamilienhäuser in der Größe laotischer Volksschulen und ließ meinen Gedanken freien Lauf über die gesamte Landschaft, die mir in den Blick kam. Ich dachte über die Traditionen und die Gemeinschaft nach, die man dem Land im Gegensatz zur Stadt zuschreibt. Darüber, dass das Land immer als Rückgrat Österreichs gesehen wird, Wien hingegen nur als (Wasser-)Kopf. Darüber, dass hier Millionen leben, mit denen der Alltag eines Floridsdorfers wenig gemein hat. Darüber, wie schön das alles ist, wie gepflegt, wie weit und dann doch wieder so eng. Darüber, dass das hier wahrscheinlich jenes Normal ist, über das manche so gerne philosophieren.

Ich nehme zuletzt öfter die Panoramaroute, Autobahnen sind charakterlos. In der Jugend fokussiert der Mensch auf die Details, später weitet sich die seelische Linse, man entwickelt ein Gefühl für den Umweg. Besonders wichtig ist das auf Reisen: Wer in einer Stadt war, kennt das Land nicht. London hat mit England so viel zu tun wie mit Eisenstadt und wer nur in Vientiane war, kann sich nicht im Geringsten vorstellen, wie es im Dschungel von Nordlaos riecht.

Aber umgekehrt eben auch nicht. Das darf man in der Erörterung der Frage, wie man normal reist oder lebt, nicht vergessen.