Chaos de Luxe: „Gott, bist du primitiv!”
Von Polly Adler
Schrei mich nicht so an!“ – „Ich schrei doch gar nicht!“ – „Du wirst immer mehr wie deine Mutter!“ – „Tiefer als dein Niveau liegt nur die Titanic. Man kann Gramatneusiedl verlassen, aber Gramatneusiedl verlässt einen nicht ...“ – „Ja, Gnädigste! Ich bin nun einmal nicht mit einem Platinschnuller im Mund auf die Welt gekommen. Und nein: Meine Mutter war nicht eine solche Migräne-Hysterikerin wie deine, dafür hatte sie nämlich gar keine Zeit.“ – „Gott, bist du primitiv ...“ – „Ich bin nicht primitiv, sondern sensibel ...“ – „Sensibel nennst du das? Ich würde sagen: maximal empfindlich. Chill einmal dein Leben, du Opfer!“ – „Was ist denn das jetzt wieder für eine Trottelsprache! Verbales Botox?! Glaubst du dieser Sprech macht dich einen Millimeter jünger?“
Jetzt erhebt sie gleich einer Rachegöttin der Kobersdorfer Sommerspiele den Mittelfinger. In Folge wird dann auf diesem Tisch vier laut geschwiegen, man hofft, dass wenigstens der dabei im Schüttmodus konsumierte Weißwein die Temperatur der Stimmung hat. Wie erfrischend! Kaum sind die Gastgärten wieder auf, kann man endlich wieder zum Konversationsvoyeur werden. Ein Lockdown-Burnout scheint sich nicht nur bei dieser Wer-hat-Angst-vor-Virginia-Woolf-Konstellation breit zu machen. Tatsächlich ist das Nervenkostüm vieler so dünn wie Papyrus aus der Pharaonen-Periode. Oft wird jedes noch so kleine Fliegenfürzchen als Grund für ausführliches Beleidigtsein dankbar umarmt.
Die, die auch ohne Pandemie der Meinung waren, dass sie immer, aber immer zu kurz kommen und stets unverschuldet in den Mühlen der Ungerechtigkeit zappeln, die werden jetzt zu echten Befindlichkeits-Terrorist*innen eskalieren. Sie sind großräumig zu umschiffen. Ich verabschiede mich mit den herzergreifenden Worten von Johannes Brahms: „Falls es hier noch jemanden gibt, den ich nicht beleidigt habe, bitte ich um Entschuldigung.“
Pollys „Nymphen in Not“ mit M. Happel & P. Morzé am 30. Mai im Wiener Rabenhof.