Kolumnen

Paaradox: Im Patschenkino

Sie

In der einen Hand die Fernbedienung des TV-Geräts, in der anderen eine frisch aufgerissene Packung Schnittenbruch: So saß der Mann gegenüber an meiner Seite beim gemeinsamen Filmabend und scrollte sich durch das aktuelle Streaming-Angebot. Draußen regnete es, ich trug das erste Mal seit langem wieder Socken, trank Wohlfühl-Tee mit Herbstaromen und hatte in dieser Stimmung äußerst polarisierende Vorstellungen eines gemütlichen Heimkino-Miteinanders: entweder deutsche Komödie oder französisches Melodram. Aber mich fragt ja niemand.

Flucht-Reflexe

Stattdessen formierte sich seine Stirn zu einer Art Haut-Ziehharmonika, die Augen verengten sich zu Schlitzen. Nicht nur, weil er die Brille in seinem Nestchen vergessen hatte, sondern vor allem, weil ihm das Angebotene sehr missfiel. O-Ton: Wenn da schon steht „gefühlvolles Drama“ wird mir schlecht, bekomme ich Nackenverspannungen und akute Flucht-Reflexe in der Wadenmuskulatur. Ja, eines ist klar, Filme, die als „bittersüß“, „berührend“, „sentimental“, „ergreifend“ oder gar „melodramatisch“ kategorisiert werden, stehen bei Mister Stirb langsam auf Platz 1 der Öd-Hitparade: Von wegen Traumfabrik! Mühsam, fad, sowas kannst du allein anschauen. Und so bringe ich mich meist passiv-aggressiv in den cineastischen Diskussionsprozess ein, indem ich schmallippig schweige oder allenfalls ein „Mir wurscht, mach’ wie du magst“ in die Auswahl-Runde werfe. Er spöttelt dann gerne ausführlich über meinen Hang zu Tränendrüsen-Epen, für die man erst eine Packung Taschentücher braucht und danach eine zweistündige Diskussion zu bewegenden Themen – von A wie Abschied über K wie Krise bis Z wie zartfühlend. Er hingegen präferiert A wie Action, K wie Killer bis Z wie Zähnefletschen. Und so passiert’s manchmal, dass da zwei an Abenden wie diesen nicht auf einen Nenner kommen. Dann spielen wir zwei actionreiche Runden Scrabble – Zähnefletschen inklusive.

gabriele.kuhn@kurier.at / facebook.com/GabrieleKuhn60

 

Er

Nur damit das klar ist: Ich habe mich meiner Frau zu Liebe jahrelang einer TV-Serie namens „This Is Us“ hingegeben. Das ist kurz zusammengefasst eine Familienaufstellung, die meiner Meinung nach gerade noch genug Stoff für einen Spielfilm besitzt, sich in der Realität aber über sechs Staffeln erstreckt. Und in jeder der 106 Folgen musste gnä Kuhn zumindest einmal weinen, weil … das erinnert mich, wie ich damals ... Man kann sich also vorstellen, mit wie vielen Tränen ich in epischen 75 Drama-Stunden konfrontiert war. Und für jede einzelne musste ich natürlich größtes Verständnis aufbringen. Die vertiefenden Gespräche, welche Gefühle Williams Tagebuch, Kevins Football-Helm oder Rebeccas Käsekuchen in ihr ausgelöst haben, sind dabei noch nicht inkludiert. Der Unterhaltungswert dieses gemeinsamen Couch-Abenteuers lag also darin, jene Traumata zu entdecken, von denen man bis dato noch gar nicht gewusst hat, dass man sie in sich trägt.

Vorstoß

Und wehe, ich stellte zwischenzeitlich launig die Frage, ob die Drehbuchschreiber ihren Sesselkreis wohl in diesem Leben noch verlassen würden – schon bekam ich, wenn es das Schluchzen erlaubte, einen Rüffel: Vielleicht solltest du dich mehr auf dich und deine Emotionen einlassen … „Eh, Schatzi“. Man kann sich jedoch vorstellen, wie erleichtert ich war, als die tatsächlich allerallerallerletzte Folge, in der sich die vielen kleinen Traurigkeiten noch einmal zu einer großen Traurigkeit bündelten, ausgestrahlt war. Die sind mir alle so ans Herz gewachsen, ich will mir gar nicht vorstellen, dass sie mich ab jetzt nicht mehr begleiten werden, erklärte meine Frau geschüttelt und gerührt. Ich schwieg. Aber ich wagte, nachdem ich respektvoll eine Zeit der Trauer verstreichen hatte lassen, einen TV-Vorstoß in Richtung Action. Ich nannte es „das Minimum zur ausgleichenden Gerechtigkeit.“ Sie meinte: Na gut, aber mit Füße massieren. Und tja, was soll ich sagen: This Is Us. 

michael.hufnagl@kurier.at / facebook.com/michael.hufnagl9