Kolumnen

Christian Seilers Gehen: Prachtvolle Blüte

Wir Spaziergänger müssen derzeit etwas lernen – und zwar ausgerechnet von den Autofahrern. Autofahrer haben, wie wir alle wissen, um die Leibesmitte ein metallisches Rundherum von stolzen Abmessungen und einigem Gewicht gebunden. Sie müssen sich, damit die Körper in ihren Extensionen nicht kollidieren, auch das Rundherum aneinander vorbeisteuern, idealerweise so, dass auch dieses unberührt bleibt. Dafür gibt es ein fixes Regelwerk und mannigfaltige Erfahrungen.

Das Gebot der Stunde heißt, dass auch wir Fußgänger Abstand voneinander halten müssen. Das flinke Aneinander-vorbei-Wieseln, das Durchpflügen von Gruppen an der Kreuzung, das Überholen auf Tuchfühlung, das uns über den Knoblauchduft des Überholten informiert oder die Marke seiner Zigarette – das gehört nicht mehr zu unserem Repertoire. Stattdessen sollten wir die Abmessungen des Automobils mitdenken, ausreichend Platz vorne und hinten und auf die Seiten eher Range Rover als Cinquecento.

 

Derzeit ist es angezeigt, auf den erlaubten Spaziergängen Knoflachers Gerüst virtuell anzulegen und seine Wege darin eingehüllt zu verrichten.


Der von mir sehr verehrte Zivilingenieur und Verkehrsforscher Hermann Knoflacher hat einmal ein Gerüst aus Holz gebaut, das die Dimensionen eines Automobils absteckte und zeigen sollte, welchen Platzbedarf dieses im Vergleich zum Fußgänger beansprucht. Derzeit ist es angezeigt, auf den erlaubten Spaziergängen Knoflachers Gerüst virtuell anzulegen und seine Wege darin eingehüllt zu verrichten. Man unterliegt damit gewissen Einschränkungen – schmale Wege zum Beispiel können nicht betreten werden – es könnte schließlich jemand mit demselben Platzbedarf entgegenkommen. Bei verengten Wegen empfiehlt es sich, zuerst die Lage abzuklären – ist jemand im Anmarsch, dem man Vorfahrt, äh, Vortritt gewähren könnte? Distanz ist nicht nur ein Zeichen von Höflichkeit (das zwar ohnehin), sondern auch von gelebter Verantwortung.

Ich gehe mit meiner virtuellen Karosserie in den Stadtpark. Schon seit Wochen drücke ich mich vor den drei japanischen Kirschbäumen herum, die beim Eingang in der Weiskirchnerstraße unübersehbar ihre prachtvolle Blüte entfalten. Ich habe den ersten rosa Hauch über den Zweigen festgestellt, als die Blüten sich anschickten, aus ihren Knospen hervorzutreten. Ich habe die ersten zwei, vier, zwölf Blüten, die dem frühen März unerschrocken ins Auge blickten, gezählt und sie freundlich und persönlich begrüßt. Jetzt, wo die prächtige, verschwenderische Blüte schon wieder am Verschwinden ist, stehe ich allein vor den Bäumen – einem Freundschaftsgeschenk Japans an die Stadt Wien – und erinnere mich an das Gedränge, das hier zur Kirschblüte normalerweise herrscht. Das Rosa des Hains musste für unzählige Instagram-Feeds reichen, es konnte gar nicht rosa genug sein, manche besonders motivierte Selfisten kletterten sogar die Bäume hinauf, damit ihr Feed noch mehr rosa abbekommt (und nahmen billigend in Kauf, dass sie andere, weniger prominente Zweige abrissen und abknickten).

Keine Spur von diesen Ärgernissen diesmal. Ich sehe die Blüten rieseln und weiß, dass sie es gerade für mich tun – für mich, meine Erinnerung und meine Karosserie.