Kolumnen

Barbara Kaufmann: Ich sterbe nicht

Früher war der Karfreitag ein schwieriger Tag für mich. Ein Tag der Trauer, des Schwermuts und des Todes, von dem ich mir wünschte, dass er möglichst schnell vorübergehen würde. Ich bin Protestantin, der Karfreitag ist der wichtigste Feiertag und es war traditionell auch der einzige, den wir jedes Jahr gemeinsam in der Kirche verbrachten.

Also zumindest jener Teil der Familie, der protestantisch war und bei dem ich nur aufgrund einer Mischung aus Zufall und sanfter Erpressung seitens einer Ururgrossmutter mütterlicherseits gelandet war. Ich hatte auch gar nichts dagegen, Protestantin zu sein, nur der Karfreitag setzte mir immer zu. Alle trugen schwarz, der Gottesdienst war deprimierend. Leiden, Sterben, Tod. Danach war mir immer ganz schlecht. In einem Jahr war der Karfreitag besonders schlimm. Zwischen Jahresbeginn und Ostern waren gleich drei Familienmitglieder hintereinander gestorben.

Zwei davon waren mir sehr nahe gestanden.

Die Uroma, bei der ich viele Jahre meine Nachmittage verbracht hatte und die fast bis zum Schluss bei uns gelebt hatte, Tür an Tür mit mir.

Und der Taufpate, die erste große Liebe meines Lebens. Der Tod der beiden traf uns nicht ganz unerwartet. Aber mich traf er aus dem Nichts. Es war das erste Mal, dass ich mir nahe stehende Menschen verloren hatte und ich konnte nicht damit umgehen. Ich wusste mit dem Tod nichts anzufangen.

Nur an den Tod denken

Mein Vater, ein überzeugter Atheist und sonst eine verlässliche Adresse für Trost und Rat, war diesmal keine große Hilfe. Er trauerte selbst, denn er hatte mit meinem Taufpaten seinen besten Freund verloren. Er sprach von der transzendentalen Einsamkeit, dem Nichts und davon, dass noch niemand zurückgekommen wäre. Das war nicht gerade sehr aufbauend.

Ich konnte an nichts anderes mehr denken als an den Tod und je mehr ich an ihn dachte, desto sicherer war ich plötzlich, auch bald sterben zu müssen. Es wurde zu einer fixen Idee von mir. Ich verabschiedete mich vor den Ferien aufgelöst von meinen Schulfreundinnen, weil ich glaubte, sie nie mehr wieder zu sehen. Ich schlief kaum noch, weil ich nicht im Schlaf sterben wollte.

Ein seltsamer Gedanke

Und in der Nacht vor dem Karfreitag war es besonders dramatisch. Panisch lag ich im Bett und war überzeugt davon, dass es jeden Moment zu Ende sein würde. Solang bis ich Hunger bekam. Mitten in der Nacht, allein in der Küche, kam mir damals plötzlich ein seltsamer Gedanke. Ich holte Tasse und Teller für das Frühstück aus dem Kasten und stellte beides neben den Herd. Ich dachte mir, wenn sie dort auf mich warteten, dann war es nicht mehr lange bis zum Morgen. Dann würde ich die Nacht überleben. Es war wie ein Versprechen, das ich mir selbst gegeben hatte. Und es hielt. Ein Ritual, das mich tröstete, das ich in den nächsten Wochen allabendlich wiederholte und noch viele Jahre beibehalten sollte. Bis zum heutigen Tag. Selbst jetzt noch, fast 30 Jahre später, gehe ich manchmal, wenn die Nacht am dunkelsten ist, die Angst kommt und die Gedanken düster werden, in die Küche. Und stelle dort die leere Kaffeetasse neben die Kaffeemaschine. Es ist nur eine Nacht bis zum Morgen, denk ich mir dann. Das geht sich aus. Das schaffe ich. Ich sterbe nicht.

barbara.kaufmann@kurier.at