Vier Ganze ergeben als Teile ein größeres Ganzes
Von Heinz Wagner
Ein Klavier, vier schwarze Sessel, drei aufrecht stehende kleine schwarze Särge, ein Tischchen mit vier Gläsern, einer Flasche und einem Glas. Kahl und pur die Bühne im MuTh (Musiktheater), dem Konzertsaal der Wiener Sängerknaben am Rande des Augartens in der Leopoldstadt. Vier – unterschiedlich, aber jedenfalls schwarz, gekleidete – junge Frauen. Sie spielen ein und dieselbe Person. „Fräulein Else“. Nach einer (Monolog-)Novelle – vor nicht ganz 100 Jahren erschienen - von Arthur Schnitzler arbeitet eine sehr junge Theatergruppe an einer Bühnenfassung. Die ist Mitte Jänner im MuTh-Saal zu erleben – siehe unten.
Die Story
Kürzest zusammengefasst die Story: Else, Tochter eines angesehenen Anwalts in Wien, ist auf Urlaub. Die Mutter schreibt einen Expressbrief. Der Vater muss drei Tage später dringendst 30.000 Gulden zahlen. Andernfalls drohe Gefängnis. Else habe doch in einem Brief an die Mutter den Herrn Dorsday erwähnt. Den möge sie um das Geld anpumpen. Abgesehen von der Peinlichkeit malt sich Else noch aus, dass dieser Mann Bedingungen stellen wolle: Sie nackt zu sehen. Lieber sterben, als diese Schmach zu erleiden. „Sie hat sich selber umgebracht, werden sie sagen. Ihr habt mich umgebracht, Ihr Alle, Ihr Alle!“ (Aus dem Originaltext, an den sich die Inszenierung weitgehend hält.)
Obwohl fast 100 Jahre (alt), weckt die Geschichte schlicht und ergreifend Erinnerungen an die „Me too“-Diskussionen und –Bewegung, die sich gegen sexuelle Gewalt an Frauen richtet.
Spannender und sichtbarere Widersprüche
Sebastian Kranner, der schon mit 13 Regisseur werden wollte, „auf der Bühne das stresst mich zu sehr“, sagt er rückblickend auf Auftritte in Burgtheater und Staatsoper zum Kinder-KURIER. Die Aufteilung auf vier Schauspielerinnen, die alle in die Rolle der Else schlüpfen, hielt er „für spannender als einen langen Monolog von einer einzigen Darstellerin“. Und die vier Elses - Hannah Rehrl, Rebecca Richter, Lea L. Witeschnik, Silvia Schwinger – sprechen nun in der Pause nach dem KiKu-Probenbesuch fast wie eine einzige Person. Irgendwie ist diese Frau ja auch widersprüchlich. Es spielt sich ja alles nur in ihrem Kopf ab. „Und so spielen wir die Widersprüche der Widersprüche der Widersprüche. Jede irgendeine Seite der Else, aber doch wieder nicht zerlegt, sondern jede als ganze Else.“
Sich spiegeln
In einer Szene sitzen die vier Else-Darstellerinnen auf Sesseln mit dem Rücken zum Publikum und schauen auf die Bühnen-Hinterwand, um dort – wie das Publikum – ein Video zu sehen. In dem schauen die vier nach vorne und sprechen – die Live-Darstellerinnen sind sozusagen eine Art Spiegelbild ihrer Video-Selbsts ;) „Irgendwie tauchen wir damit in die unendlichen Tiefen ihrer Psyche ein.“
Selbst im Nacken sitzen
In jener Szene in der es heißt „Ich fühle den Blick von Dorsday auf meinem Nacken“ springen zwei der Elses, Silvia Schwinger und Lea L. Witeschnik auf die Rücken ihrer beiden anderen „Vierteln“, Rebecca Richter und Hannah Rehrl – sitzen ihnen also fast in ihren Nacken – und spielen die Hände der Vorderfrauen.
Männerstimmen aus dem Off
Der genannte Herr von Dorsday sowie der auch in der Novelle vorkommende Vetter Paul erscheinen nie auf der Bühne – Marius Lackenbucher und Jakob Pinter sprechen ihre Texte aus dem Hintergrund, bei der Probe aus der ersten Publikumsreihe.
Musik
Neben Videoeinspielungen gibt es in manchen Szenen auch musikalische Untermalung. „Für die vier Teile des Stücks hab ich vier Lieder, die letzten von Richard Strauß komponierten, ausgewählt und Musik aus der Oper „Die tote Stadt“ (Oper von Erich Wolfgang Korngold/Musik und seinem Vater Julius Korngold/Text)“, sagt der junge Regisseur und Stückfassungs-Autor zum Kinder-KURIER. Der zuletzt genannte Komponist war übrigens auch sehr jung, bei der Uraufführung 23.
Zum Schluss-Video, das weit aus dem Saal rausführt – hier aber nicht verraten sei – wird dann die Orgel-Symphonie von Camille Saint-Saëns gespielt.
Die junge Gruppe
Vor mehr als zwei Jahren, damals noch Schüler am ORG Sängerknaben, hatte Sebastian Kranner mit einer Handvoll anderer junger Theaterbegeisterter das „Augentheater der Zukunft“ gegründet. Mit Henrik Ibsens „Gespenster“ feierten sie als solche Premiere auf der MutTh-Bühne. Im Vorjahr inszenierte er „Elektra“ nach Hugo von Hofmannsthal. Und für heuer hatte die Muth-Direktorin Elke Hesse den Jüngst-Regisseur gebeten, wieder ein Stück zu inszenieren. Hannah Rehrl, die eine der Elses spielt, hatte im Vorjahr ihre VWa (vorwissenschaftliche Arbeit) zum Einfluss der Psychoanalyse auf die Literatur der Wiener Moderne am Beispiel von Arthur Schnitzlers „Traumnovelle“ und „Fräulein Else“ geschrieben. Das beeinflusste den Entscheidungsprozess der Gruppe.
In Ausbildungen
Kranner studiert jetzt Germanistik und Theaterwissenschaften, „für die Ausbildung als Regisseur bin ich noch zu jung“. Rebecca Richter und die beiden Sprecher haben ihre Schauspielausbildung schon hinter sich. Silvia Schwinger ist grade in einer Schauspielschule, Hannah Rehrl studiert klassischen Gesang und Lea L. Witeschnik ist „gerade am Vorsprechen bei Schauspielschulen“.
Fräulein Else
Nach der gleichnamigen Novelle von Arthur Schnitzler
Eine Produktion von „Augentheater der Zukunft“
Dramatisierte Fassung und Inszenierung: Sebastian Kranner
Fräulein Else: Hannah Rehrl, Rebecca Richter, Lea L. Witeschnik, Silvia Schwinger
Stimme von Dorsday: Marius Lackenbucher
Stimme von Paul: Jakob Pinter
Video: Sebastian Kranner, Dorian Kalwach
Regieassistenz: Isabelle Papst, Lisa Auer
Kostümassistenz: Lea L. Witeschnik, Lioba Libardi
Wann & wo?
Donnerstag, 16. Jänner 2020, 19.30 Uhr
MUsikTHeater (MuTh), Konzertsaal der Wiener Sängerknaben
1020, Am Augartenspitz 1
Telefon: (01) 347 80 80
muth.at -> fraeulein-else