Leben mit Schizophrenie: Das sind die häufigsten Vorurteile
Unberechenbar. Aggressiv. Gefährlich. Das sind typische Eigenschaften, die Menschen mit Schizophrenie in der Öffentlichkeit oftmals zugesprochen werden. Völlig zu Unrecht, wie Betroffene, ihre Angehörigen und auch medizinische Fachkreise nicht müde werden zu betonen. Dieser Irrtum wird auch beim Treffen mit der 29-jährigen Christina schnell klar (Anm.: Name von der Redaktion geändert).„Ich wünsche mir, dass wir nicht pauschal abgestempelt werden. Unsere Krankheit soll wie jede andere wahrgenommen werden, mit verschiedenen Ausprägungen“, sagt die freundliche und höfliche junge Frau.
Leitsymptom ist Angst
Christina ist einer von rund 80.000 Menschen in Österreich, die von Schizophrenie betroffen sind. Die Angst davor, als verrückt oder gefährlich abgestempelt und sozial ausgegrenzt zu werden, belastet enorm. Viele ziehen sich deshalb in die eigenen vier Wände und noch tiefer in ihre Gedankenwelt zurück. „Ein wesentliches Leitsymptom ist die Angst vor der Umwelt. Es gibt nur einen verschwindend kleinen Teil, der in akuten Phasen mit Aggression reagiert“, betont Christa Radoš, Leiterin der Psychiatrie am LKH Villach und Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie.
In der wörtlichen Übersetzung aus dem Griechischen bedeutet Schizophrenie „Spaltungsirresein“, was zu Missverständnissen und falscher Verwendung von „schizophren“ in der Alltagssprache geführt hat. Die Erkrankung beeinflusst zwar die gesamte Persönlichkeit: Alles was einen Menschen ausmacht, kann betroffen sein – erleben, lernen, Gefühle mitteilen und verstehen. Betroffene haben das Gefühl, nicht mehr die Person zu sein, die man immer war. „Schizophrenie ist aber keine Persönlichkeitsspaltung.“
Dopamin-Ausschüttung
Die Realität stellt sich für Erkrankte anders dar, weil alle Außenreize ungefiltert auf sie treffen. Sie können nicht zwischen wichtigeren und weniger wichtigen Reizen differenzieren. Das liegt daran, dass die Kommunikation zwischen den Gehirnarealen nicht so funktioniert, wie sie sollte. Dies lässt sich auf die Dopaminausschüttung zurückführen – ein wichtiger Botenstoff des Nervensystems, der nicht nur für die Steuerung von Bewegung, sondern auch für den psychischen Antrieb verantwortlich ist. Menschen mit Schizophrenie reagieren auf Reize mit mehr Dopamin-Ausschüttung in bestimmten Hirnarealen. Das verändert und stört die Kommunikation zwischen den Regionen. Die Folgen zeigen sich auf unterschiedliche Weise. Zum einen gibt es die sogenannten Positivsymptome, wie etwa Wahnideen oder Halluzinationen. Zum anderen leiden Schizophrenie-Erkrankte häufig auch an Negativsymptomen, die von Antriebslosigkeit und Schwierigkeiten, sozial zu interagieren, gekennzeichnet sind.
Die ersten Anzeichen
Bei manchen Menschen beginnt es mit Verstimmungen. Häufig zeigt sich auch der Abbruch von sozialen Kontakten, also ehemals beste Freunde werden ignoriert. Gute Schüler verschlechtern sich plötzlich. „Mit 16 Jahren hatte ich einen Leistungseinbruch in der Schule“, erinnert sich Christina: „Ich begann, Stimmen zu hören und versteckte Nachrichten wahrzunehmen. Zum Beispiel habe ich mich beim Fernsehen gefragt, warum mich die Moderatorin so komisch ansieht, was sie mir sagen will.“ Das Mädchen schottete sich zunehmen ab. Alles wurde zur Gefahr, ihre Mitschüler und sogar die Familie. „Man denkt, die anderen könnten die eigenen Gedanken hören.“ Christinas Mutter suchte eine Psychotherapeutin mit ihr auf, diese kam damals zu dem fatal falschen Ergebnis: eine Sinnkrise nach der Pubertät.
Menschen mit Schizophrenie durchleben Phasen, in denen die Symptome verschwinden und wieder aufflackern. Auch bei Christina haben die Stimmen nachgelassen, sind aber immer wieder zurückgekommen. Es folgte die erste Psychose: „Ich hatte Halluzinationen, habe Lichtspiele gesehen.“ Jetzt greift Christina zu ihrem Wasserglas: „Dieses Glas glänzt wegen der Lampe, die über uns hängt. Während meiner Psychose wäre ich aber davon überzeugt gewesen, es glänzt mich an. Ich dachte, das sind Botschaften und ich wurde dazu auserwählt, sie zu erhalten.“ Heute weiß sie, das war alles nicht die Realität.
Schwer nachvollziehbar
„Das ist für Gesunde schwer nachvollziehbar“, sagt die klinische Psychologin Alexandra Stockinger: „Schizophrene Menschen hören die Stimmen nicht im Kopf, sondern wie normal, mit den Ohren gehört. Halluzinationen werden gesehen, wie mit den Augen gesehen. Wir Menschen verlassen uns auf unsere Wahrnehmungsorgane. Daher auch die tiefe Verunsicherung und Erschütterung der eigenen Realität.“
Man habe das Gefühl, mit der Umgebung zu verschwimmen, schildert Christina: „Ich wusste nicht mehr, wo ich anfange und aufhöre.“ Sie unterbricht das Gespräch. „Wollen Sie das wirklich alles wissen?“ Zustimmendes Nicken. Die Psychose endete in Selbstmordversuchen. „Die Stimmen wurden zu den Stimmen meiner Eltern. Sie befahlen mir, mir schlimme Dinge anzutun.“ Christina schluckt. „Ich bin in einer katholischen Familie aufgewachsen. Ich habe mir eingebildet, von Gott gesandt zu sein und mich opfern zu müssen.“
Behandlung
Christina wurde in die Psychiatrie überstellt, dort erhielt sie schließlich eine adäquate Behandlung. Durch die regelmäßige Einnahme von Antipsychotika können Schübe in den Griff bekommen werden. Ihre Aufgabe ist es, die Dopaminübererregung zu blockieren und den Hirnstoffwechsel somit zu stabilisieren. Das Rückfallrisiko reduziert sich damit auf zehn bis 20 Prozent. Je früher die Erkrankung diagnostiziert wird, desto wahrscheinlicher ist es, dass Betroffene davon profitieren und ein zufriedenstellendes Leben aufnehmen können. „Ohne die Medikamente wäre ein Leben, wie ich es jetzt führe, nicht möglich“, sagt Christina. Neben einer medikamentösen Therapie nimmt sie auch eine Psychotherapie in Anspruch. Die Wohngemeinschaft für Menschen mit psychischen Einschränkungen, in der sie vorübergehend wohnte, konnte sie inzwischen wieder verlassen.
Tagesstruktur
Heute lebt sie in ihrer eigenen Wohnung und besucht eine Tagesstruktur. Hier können Menschen ohne Zeitdruck einer Beschäftigung nachgehen und sich austauschen. „Selbstmanagement ist für psychisch kranke Menschen ein Balanceakt zwischen Isolation einerseits und Überforderung andererseits. Wir unterstützen sie dabei und auch bei anderen Hürden“, sagt Alexandra Stockinger, Fachbereichsleiterin für Betreutes Wohnen bei pro mente Wien. Weil viele Betroffene nicht mehr erwerbstätig sein können, sei zum Beispiel Geld sehr oft ein Thema. „Die Neuregelung der Mindestsicherung trifft psychisch kranke Menschen besonders stark.“
Christina wünscht sich, dass Betroffene wissen, wo und wie sie Hilfe bekommen, vor allem außerhalb der Psychiatrie, wenn sie auf sich alleine gestellt sind. Und: „Ich wünsche mir, dass man uns nicht anlastet, faul oder dumm zu sein. Ich wünsche mir, gleichwertig angesehen zu werden.“ Besonders Angehörige spielen in der Behandlung und Betreuung der Betroffenen eine wichtige Rolle. Für sie sei es wichtig, sich fachärztliche Beratung einzuholen, rät Christa Radoš. Und für die Gesellschaft als Ganzes? „Man sollte Menschen mit Schizophrenie akzeptieren und wahrnehmen als eine Variante des Spektrums menschlicher Vielfalt.“
Dieser Artikel ist im KURIER-Magazin Medico erschienen.