Leben

"Das ist mein ganzes Leben"

Hätte sie ihr Mädchen zur Welt bringen dürfen, wäre es eine kleine Anaïs geworden. Vielleicht auch eine Erika oder eine Nina. Nichts davon durfte sein. Die Malerin Charlotte Salomon wurde im Oktober 1943 im KZ Auschwitz-Birkenau ermordet. Mit 26 Jahren. Im fünften Monat schwanger. Hätte sie weiterleben dürfen, wäre sie ein glücklicher Mensch geworden. Davon waren ihre Eltern noch Jahrzehnte nach dem Tod der Tochter überzeugt. In einer Filmaufnahme von 1963 sieht man Charlottes Vater und ihre Stiefmutter, wie sie sich an die Erinnerung, besser: die Vorstellung von ihrer fröhlichen Tochter klammern. Doch ein unbeschwerter Mensch, das müssen die Eltern insgeheim gewusst haben, war Charlotte Salomon wohl nie. Der schwarze Vogel Traurigkeit schwebte über der Familie. Mutter, Tante und zuletzt die Großmutter waren bis zum bitteren Ende von Todessehnsucht besessen, bis sie diese in die Tat umsetzten. Charlotte wurde das vorweggenommen.

Die junge Malerin muss gewusst haben, dass ihre Zeit begrenzt war, als sie 1942 in Südfrankreich dem befreundeten Arzt Dr. Moridis einen Koffer mit ihren Werken übergab: „C’est toute ma vie“ – „Das ist mein ganzes Leben.“ Die darin befindlichen Bilder und Skizzen sind von einer Dringlichkeit, die bezeugt: Charlotte spürte, dass sie keine Zeit zu verlieren hatte. In einem regelrechten Rausch malte die vor den Nazis geflüchtete junge Berlinerin nach dem Selbstmord der Großmutter einen Zyklus mit über tausend expressionistischen Gouachen, in denen sie ihr Leben beschreibt. „Leben? Oder Theater?“ betitelte sie das „Singspiel“ in Bildern: Es erzählt ihre Familiengeschichte, die Erfahrungen als jüdisches Mädchen in Berlin, ihre Liebe zum Gesangspädagogen Alfred Wolfsohn und die Exilzeit in Südfrankreich. Der französische Komponist Marc-André Dalbavie hat das Werk als Oper vertont und 2014 bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt. Erstmal öffentlich gezeigt wurde der Zyklus 1961 und geriet danach in Vergessenheit. Bei der Documenta in Kassel 2012 wurden Gemälde daraus ausgestellt und nun zeigt das Museum der Moderne in Salzburg die berührenden Bilder. Der französische Bestsellerautor David Foenkinos, dessen Romane in über vierzig Sprachen übersetzt, einige davon auch verfilmt („Nathalie küsst“) wurden, stieß zufällig auf Charlottes Bilder und war sofort gefesselt. Sein atemloser Roman „Charlotte“ hat sich allein in Frankreich eine halbe Million Mal verkauft. Packend schildert er das intensive Leben der jungen Frau, der es durch die Kunst gelang, der fatalen familiären Veranlagung zum Selbstmord zu widerstehen.
Geboren am 16. April 1917 als Tochter des Arztes Albert Salomon und dessen Frau Franziska in einem gutbürgerlichen, jüdischen Berliner Haushalt, wird Charlotte nach ihrer verstorbenen Tante benannt. Diese hatte sich als junges Mädchen ertränkt. Charlottes Mutter folgte der seelenverwandten Schwester Jahre später in den Tod – und machte die neunjährige Charlotte zur Halbwaise.
Dass ihre Mutter Selbstmord beging, wird Charlotte erst viele Jahre später erfahren und in die Malerei flüchten. Doch schon zuvor, 1933, als die Nazis die Macht in Deutschland ergreifen und Charlottes Vater Albert und seine zweite Frau, die berühmte Sängerin Paula Lindberg, ihre Arbeitserlaubnis verlieren, findet Charlotte Trost in der Kunst. Sie verehrt Van Gogh, Chagall, Emil Nolde. Als die Nazis die Malerei gleichschalten wollen und von „entarteter Kunst“ sprechen, stellt sich Charlotte auf die Seite der Geächteten. 1935 gelingt ihr die Zulassung an der Berliner Kunstakademie. Doch die politische Lage spitzt sich zu.
1939 flieht Charlotte zu den Großeltern nach Villefranche in Südfrankreich. Kurz nach Kriegsausbruch nimmt sich die Großmutter das Leben. Aus dieser tiefen Lebenskrise heraus beginnt Charlotte die Arbeit an „Leben? oder Theater?“. In den letzten Lebensmonaten schöpft sie Hoffnung: Sie heiratet den österreichischen Flüchtling Alexander Nagler, wird schwanger. Das Paar wird denunziert und im September 1943 abgeholt. Charlotte ist im fünften Monat. Sie wird kurz nach ihrer Ankunft Anfang Oktober im KZ Auschwitz vergast.