Leben/Gehen

Gehen: Wenn der Blick schweift

Zuerst stand ich vor dem eindrucksvollen Gebäude, das die Ecke Windmühlgasse-Barnabitengasse besetzt, betrachtete die fein strukturierte Fassade mit ihren fantasievollen Dekorationen und den umlaufenden, eleganten Balkon im obersten Stock. Wie immer, wenn mir ein Ort besonders gut gefällt, stellte ich mir vor, wie ich selbst dort oben auf und ab ginge, vielleicht das neue Album der „Strokes“ in den Kopfhörern, das mir gerade besonders gute Laune macht, und dachte nach, wie weit wohl mein Blick schweifen würde.

Dann erst sah ich die kleine Informationstafel, die auf den Architekten des Hauses hinwies, den in Galizien geborenen Oskar Marmorek (1863 bis 1909). Marmorek hatte sein Handwerk an der Technischen Hochschule in Wien gelernt. Zu Beginn seiner Karriere war er – beeinflusst von der Pariser Weltausstellung – als Architekt der legendären Show „Venedig in Wien“ hervorgetreten, bevor er die Aufträge für einige Villen und Zweckbauten in Böhmen und Ungarn bekam.

Marmoreks erstes Gebäude in Wien war der Nestroyhof im Zweiten Bezirk, wo heute das Theater Hamakom und der Kunstraum Nestroyplatz untergebracht sind. Dann stattete er das Haas-Haus am Stephansplatz mit Beleuchtung und Dekoration aus, bevor er 1902 sein Meisterwerk an der Hamburgerstraße ablieferte: den ganz in der Tradition Otto Wagners stehenden Rüdigerhof, dem die Häuser in der Windmühlgasse und eine Reihe weiterer, weniger bemerkenswerter Gebäude folgten. Noch in der Windmühlgasse beschloss ich, zuerst zum Rüdiger- und schließlich zum Nestroyhof weiterzugehen, eine Runde im Andenken an Oskar Marmorek, der neben seiner Arbeit als Architekt auch als Freund Theoder Herzls und Unterstützer der zionistischen Bewegung hervorgetreten war (u. a. stammt auch das Grabmal Herzls am Döblinger Friedhof von ihm).

Von der Windmühlgasse zum Rüdigerhof waren es nur ein paar Schritte. Dann stand ich vor dem schlanken Haus, in dessen Rundung im Erdgeschoß das Café Rüdigerhof ordiniert, ein unverschickter Treffpunkt der Wiener Bohème (oder was sich dafür hält). Ich bewunderte die reich verzierten Balkonvorsprünge und die etwas hundertwassermäßig anmutenden Dekorationen an der Dachtraufe und dachte mir bewundernd, wie viele ausgetüftelte Details wohl in ein so kurzes Leben wie das von Oskar Marmorek passen.

Durch den Naschmarkt, wo das Treiben gerade erträglich ist, ging ich weiter Richtung Schwedenplatz, wo ich dann über die Praterstraße zum Nestroyhof gelangte. Das Gebäude hatte Marmorek für seinen Schwiegervater Julius Schwarz geplant, es fungierte zum Fin de Siècle als vitales Zentrum für jüdische Kultur. Im unteren Teil des Hauses befanden sich die Nestroy-Säle, ein bekanntes Wiener Vergnügungsetablissement. Im Keller traf man sich in der Tanzbar Sphinx, und im „Intimen Theater“ gastierte regelmäßig Karl Kraus mit seiner Theatergruppe Trianon.

Ein Schmuckstück ist der Nestroyhof mit seinen schmiedeisern geschmückten Balkonen noch immer. Seine Blütezeit habe ich nie erlebt. Aber ich vermisse sie.