Leben/Gehen

Christian Seilers Gehen: Plötzlich eine urbane Freude

Plötzlich ist es eine urbane Freude, die Liechtensteinstraße entlangzugehen. Als die Zeiten noch anders, nämlich normal waren, wählten zu viele Autos diesen Aus- und Einfahrtskanal in Wiens Zentrum und aus diesem zurück. Ihre Lautstärke ließ die Freude am Gehen verlöschen, man bog schleunigst irgendwohin ab, wo das Kleinklima fußgängerfreundlicher war.

Ich kann aus der Schule plaudern und versprechen: Sie werden sehr viel Gold und zahlreiche Engerln sehen, wenn die Zeiten wieder normal sind.


Jetzt, wo ungefähr 70 Prozent weniger Autos unterwegs sind, ist die Liechtensteinstraße ein interessanter, mancherorts sogar reizender Straßenzug. Sie durchquert zahlreiche alte Stadtterrains, die Alservorstadt, den Himmelpfortgrund, das Lichtental, die Rossau, den Thurygrund. Ihren Namen hat sie klarerweise von einem Fürsten Liechtenstein, konkret von Adam Andreas (1657-1712), an dessen 1687 erworbenem Sommerpalais sie vorbeiführt. Durch die barocken Prunkräume des Palais werden in normalen Zeiten Führungen angeboten, und ich kann aus der Schule plaudern und versprechen: Sie werden sehr viel Gold und zahlreiche Engerln sehen, wenn die Zeiten wieder normal sind.

Auf Nummer 13 betrachte ich das Wohnhaus des berühmten Dramatikers Friedrich Hebbel, wobei ich, wenn ich mir das aussuchen darf, lieber die Kalendergeschichten von Johann Peter Hebel lese, Hebel mit einem b. Aber der hat nicht hier gewohnt.

Vor der Nummer 21, einem prächtig renovierten Vormärzhaus, versuche ich mir vorzustellen, wie dieser schmale Straßenzug einmal ausgesehen hat, als die Häuser noch nicht in den Himmel gewachsen sind, sondern sich mit einem oder vielleicht einem zweiten Stockwerk begnügt haben. Etwas weiter stadtauswärts bekomme ich auf diese Frage eine klare Antwort: Auf Nummer 28 steht ein einstöckiges Handwerkerhaus, laut Hausschild „Der Heiligen Dreifaltigkeit“ zugetan, und dieses Haus erzählt eine vielstimmige Geschichte.

Im Erdgeschoß war einmal das „Lager 2 der Fa Alexander Häuser“ untergebracht, direkt neben einem winzigen Straßenlokal eines Fenster- und Zimmerputzers. Gleich neben dem Einfahrtstor hatte der „Pferdefleischhauer und -selcher Rudolf Schlapota“ sein Geschäft, ob er im Hinterhof die Rösser abstach, ist nicht mehr zu rekonstruieren. Im ersten Stock, schmutzige Fenster, einzelne Kunstblumensträuße in den Fensterlaibungen, hatte wohl ein Rechtsanwalt sein Büro. Heute würde man von einem bunten Gewerbemix sprechen.

Das Haus Nummer 28 ist ein Unikat, ein Überbleibsel, gewiss auch ein Störfaktor in der hier breiter werdenden Straße zwischen den breitschultrigen Gründerzeithäusern. Ich kann mir gut vorstellen, was Immobilienentwickler sehen, wenn sie das Haus betrachten. Aber ich sehe etwas anderes: ein altes Wien, die Normalität einer vergangenen Zeit, und es würde mir in der Seele weh tun, wenn dieses Handwerkerhaus aus der Biedermeierzeit einfach verschwände, statt, sagen wir, abgetragen und ins Wien Museum übersiedelt zu werden.

Vielleicht darf es auch einfach nur stehen bleiben. Das wäre die schönste Variante für die Zeit, wenn wir uns eh an eine neue Normalität gewöhnen müssen. So könnten wir anfangen.