Christian Seilers Gehen: Lieblingsorte in Salzburg
Von Christian Seiler
Ich liebe den Blick von oben. Er macht Unverständliches einfach und schafft willkommene Distanz. Die Bewegungen der Menschen in der Getreidegasse sehen zum Beispiel, vom kleinen Plateau am äußeren Ende der Bürgerwehr aus gesehen, interessant und fast zoologisch aufregend aus: Wie schaffen es diese kleinen Wesen dort unten bloß, einander auf engem Raum so vorbildlich auszuweichen und ihren eigenen Weg zu finden?
Immer wieder bleibe ich bei meinem Spaziergang über den Mönchsberg stehen, um nach unten zu schauen, an einer speziellen Stelle besonders lange. Vor mir ist mit geometrischer Wucht eine Schneise in den Mönchsberg geschlagen, und ich sehe über die Rossschwemme hinweg genau auf den Herbert-von-Karajan- und den Universitätsplatz, wo die großen Durchhäuser der Salzburger Innenstadt ein Ensemble mit unebenen Fassaden bilden, alle in unterschiedlichen Pastellfarben verputzt, von ähnlicher Statur und nur im Detail zu unterscheiden. Ihre Geschichten könnten unterschiedlicher nicht sein. Aber die Vogelperspektive macht sie für den Augenblick der Betrachtung gleich. Ein gelber Sound-of-Music-Hop-on-Hop-of-Bus schiebt sich durch das perfekte Ensemble, biegt ab und verschwindet im Berg.
Die Schneise im Mönchsberg ist, wenn man sie lesen kann, eine spektakuläre Erzählung. Während der Kapuzinerberg und der Festungsberg aus Kalkstein sind, besteht der Mönchsberg aus Konglomeratgestein. Sein braungraues, poröses Gestein eignete sich besonders gut als Baumaterial. Fast die gesamte Salzburger Altstadt ist aus dem Konglomeratgestein des Mönchsbergs erbaut.
Als im 17. Jahrhundert über eine bequemere Verbindung zwischen der Altstadt und der Riedenburg auf der anderen Seite des Mönchsbergs nachgedacht wurde, kam eine besonders kühne Idee auf.
Warum nicht den Mönchsberg in der Mitte durchschneiden und auf diese Weise die Stadtteile gegeneinander öffnen? Dieser Gedanke erinnert in seiner Monumentalität ein bisschen an den Turmbau von Babel. Höchst erstaunlich, dass er in dieser katholischen Stadt tatsächlich in die Tat umgesetzt wurde. Die Schneise, durch die ich auf die Altstadt schaue, ist der unmissverständliche Beweis. Die Bauarbeiten wurden 1676 begonnen, aber wieder eingestellt, als das Projekt aus dem Ruder lief. Erstens – Überraschung – erwiesen sich die Bauarbeiten als viel zu teuer. Zweitens hatte bald niemand mehr Verwendung für das abgebrochene Gestein. Salzburg hätte doppelt oder dreimal so groß sein müssen, um das abgebaute Material zu neuen Häusern verbauen zu können. Die Arbeit an der Schneise wurde eingestellt, stattdessen bohrte man einen Tunnel. Der monumentale Denkfehler von damals kann heute bequem besichtigt werden.
Ich mache mich jetzt auf den Weg zu zwei Lieblingsorten auf dem Mönchsberg. Erstens, James Turrells Skyspace, wo ich ein bisschen in die Luft schauen werde. Zweitens, die Terrasse des M32, wo meine persönlichen Festspiele stattfinden: Der Blick auf Salzburg ist von dort so schön wie nirgends sonst, und der Affogato schmeckt nach Sommer und Freude.