Leben

Wiener Salonière

Bei so viel Biografie, weiß man nicht, womit man anfangen soll. Vielleicht damit: Berta Zuckerkandl war die letzte bedeutende Salonière. Darüber hinaus soll sie eine bemerkenswert liebenswürdige Person gewesen sein, die die Wiener Gesellschaft während der letzten Jahrzehnte der Monarchie maßgeblich prägte. „Auf meinem Diwan wird Österreich lebendig“ schrieb sie einmal.

Die Salons waren vielleicht der Ursprung dessen, was man heute verächtlich Verhaberung nennt. Der wachsende Einfluss des Bürgertums auf die Kultur zeigte sich dort seit dem frühen 19. Jahrhundert. Nach französischem Vorbild gestaltet und von Frauen geleitet, bildeten sie lockere Zusammenkünfte von Musikern, Malern, Schriftstellern, Politikern und – typisch österreichisch – kunstsinnigen Adeligen. In Konversationszirkeln wurden Verbindungen hergestellt, Freundschaften, sogar Ehen gestiftet.

Die Salons in Paris oder Berlin hatten praktisch ausgedient – als sie durch Berta Zuckerkandl-Szeps eine neue Blüte erlebten. Doch die Zuckerkandl war weit mehr als Salonlöwin.

Geboren wurde sie 1864 in Wien-Leopoldstadt als Tochter des Verlegers und Zeitungsmachers Moritz Szeps, eines assimilierten Juden und Intimus von Kronprinz Rudolph. Religion spielte im Haushalt des weltläufigen Journalisten keine Rolle, Politik, Kunst, Literatur und Theater umso mehr. Die beiden Männer müssen Berta nachhaltig geprägt haben: Nahezu die Hälfte ihrer Memoiren „Ich erlebte fünfzig Jahre Weltgeschichte“ widmete Berta Zuckerkandl ihrem Vater und dessen Vertrauten. Die Basis der Freundschaft zwischen dem Journalisten und dem Thronfolger waren gemeinsame politische Ansichten, die Berta übernahm. Die Beziehungen zum Kronprinzen und seine Bestrebungen, die Verbindungen zwischen Österreich-Ungarn und Frankreich zu stärken, machten Szeps auch mit der französischen Politik und mit seinem späteren Schwiegersohn Paul Clemenceau, Bruder des späteren französischen Innenministers George, bekannt, der Bertas Schwester Sophie heiratete.

Moritz Szeps leitete zunächst die Wiener Morgenpost und später das Wiener Tagblatt – sein langjähriger Feind war übrigens Fackel-Herausgeber Karl Kraus. Berta kam als zweites von fünf Kindern aus der Ehe zwischen Moritz Szeps und der Journalisten-Tochter Amalie Schlesinger zur Welt – ihr Vater Sigmund Schlesinger war Mitbegründer des Journalistenvereins Concordia. Begleiterin ihres Vaters und gelegentlich auch als Schriftführerin, nahm Berta schon als Teenager an seinen Gesprächen und Kontakten mit in- und ausländischen Prominenten teil und hatte daher schon früh einen sehr weit gespannten Bekannten- und Freundeskreis.

Zentrum des politischen Credos im Hause Szeps war der Liberalismus, dessen Niedergang den österreichischen Juden Kopfzerbrechen bereitete. Die Liberalen waren es, die den Juden volle Gleichberechtigung zugestanden und das Entstehen einer wohlhabenden jüdischen Bourgeoisie ermöglicht hatten, aus der entscheidende Impulse für das Wiener Kulturleben der Jahrhundertwende kamen.

Bereits Berta Zuckerkandls Mutter Amalie betrieb als Frau eines einflussreichen Publizisten einen der beliebtesten Wiener Salons wo Dichter, Schauspieler, Politiker und Aristokraten verkehrten. Er lockte „Weltdamen“ ebenso wie „einfache Frauen“, schrieb Berta Zuckerkandl in ihrer Biografie, nur für eines war kein Platz: „Hier war kein Raum für Snobismus und Arroganz.“ Ein Credo, dem sie zeitlebens treu blieb.

Gebildet, aber auch streng erzogen, heckte das Mädchen Berta gerne Streiche aus: Mit dem damaligen Jungschauspieler Alexander Girardi drehte sie bei einer Soiree das Gas und somit das Licht im ganzen Haus ab – und wurde mit Ausgehverbot bestraft.

Wenige Jahre später lernt sie den Chirurgen Emil Zuckerkandl kennen, der ihr die Welt der Wissenschaft eröffnet. Beim ersten Treffen hat sie sich noch über den „komischen Namen“ amüsiert und sich gefragt, warum er den nie geändert hat. Bald weiß sie es: Emil hatte bereits als 19-Jähriger einen bisher unbekannten Knochen im menschlichen Körper entdeckt, der als „Os Zuckerkandl“ in die medizinischen Wörterbücher eingegangen ist. Über den „komischen Namen“ kommt die 19-Jährige rasch hinweg, denn sie findet in seinem Träger eine wesentliche Eigenschaft: „Mein Leben lang habe ich mich nicht so gut unterhalten.“ 1886 heiraten die beiden.

Als Emil Zuckerkandl einen Lehrstuhl für Anatomie an der Wiener Universität erhält, führt Berta in ihrem Haus die Tradition ihrer Mutter fort. Bis 1938 führt sie einen literarischen Salon, zunächst in einer Villa in der Nußwaldgasse in Döbling, ab 1917 in der Oppolzergasse beim Burgtheater, wo sich heute eine Gedenktafel befindet.

Hier verkehrt die künstlerische und wissenschaftliche Elite des Landes, darunter Johann Strauß (Sohn), Gustav Klimt und Max Reinhardt. Die junge Schriftstellerelite um Felix Salten, Arthur Schnitzler und Hermann Bahr, die sich zunächst im Café Griensteidl, trifft, ist wenig später hier anzutreffen. Allerdings war auch sanfte Kritik aufgrund dieser Umtriebigkeit zu hören: Zeitgenossen zufolge soll sie das Telefon in den wienerischen Kulturbetrieb eingeführt haben – für Hugo von Hofmannsthal „das indiskrete“ Instrument“. Arthur Schnitzler soll der Zuckerkandl geraten haben, einmal ein Telefontagebuch zu veröffentlichen.

Auch als Heiratsvermittlerin war die Zuckerkandl tätig: Sie arrangierte 1901 im Rahmen einer Soiree das Treffen zwischen Alma Mahler-Werfel, damals noch Schindler und Gustav Mahler, gefeierter Dirigent und Direktor der Wiener Hofoper. Er soll sich noch an diesem Abend in die selbstsichere junge Frau verliebt haben, die ihm erläuterte, dass sie das von ihm zur Aufführung gebrachte Ballett von Josef Bayer für ein dümmliches Stück halte. Wenige Wochen später machte Mahler ihr einen Heiratsantrag. Nicht die einzige Beziehung, die im Salon Zuckerkandl gestiftet wurde.


Zu Besuch bei ihrem Schwager Paul Clemenceau in der Vendée, besucht sie mit dessen Bruder Georges die Jahrhundertausstellung französischer Malerei, lernt durch ihn den Bildhauer Auguste Rodin und Vertreter der modernen Malerei kennen. Auch Maurice Ravel trifft sie und sie übersetzt mehrere Theaterstücke aus dem Französischen, etwa von Jean Anouilh. In ihrer täglich erscheinenden Kunstkolumne in der Wiener Allgemeinen Zeitung verbreitet sie den Gedanken eines spezifischen modernen österreichischen Kunsthandwerks, wie es in den „Wiener Werkstätten“ entwickelt wird, und engagiert sich insbesondere für den Jugendstilmaler Gustav Klimt. 1902 macht Berta Zuckerkandl Rodin und Klimt miteinander bekannt. Unter der Führung von Gustav Klimt entsteht im Salon die „Wiener Secession“. Diese Begegnung kann als exemplarisch gelten: Durch ihre Freundschaft mit Max Reinhardt und Hugo von Hofmannsthal erfährt der „Jedermann“ seine erste öffentliche Lesung in Berta Zuckerkandls Salon, und sie setzt sich vehement für die Idee der Salzburger Festspiele ein. 1938 bricht die Welt zusammen. Zuckerkandl muss fliehen. Als die deutschen Truppen in Frankreich einmarschieren, folgt sie ihrem Sohn nach Algier, wo sie sich nach der Befreiung Nordafrikas durch die Amerikaner über eine von den Alliierten eingerichtete Radiostation für Frieden und Völkerverständigung einsetzt. 1945 kann sie noch die Niederlage des Nationalsozialismus erleben, stirbt jedoch im Oktober des gleichen Jahres in Paris. Berta Zuckerkandl ist auf dem Friedhof Père Lachaise begraben.