Wiener Krankenschwestern in Not
Von Martin Gantner
Christine Löwenpapst hatte schon Kopfschmerzen, Herzinfarkte und Hirnblutungen, sagt sie. "Tag für Tag kommen Patienten mit unterschiedlichsten Problemen zu uns in die internistische Notfallambulanz." Die Wienerin arbeitet seit 20 Jahren als Pflegerin im Kaiser-Franz-Josef-Spital. "Ich liebe meinen Beruf", sagt sie, "aber jetzt ist eine Grenze überschritten." Die 45-Jährige ist eine von knapp 1000 Pflegern, die vergangene Woche vor das Wiener Rathaus zogen. Mit Leinwandprojektoren setzten sie den Sitz des Bürgermeisters in Flammen und forderten mehr Personal, mehr Geld und "Mehr Zeit für Menschlichkeit". Sogar von Streik ist bereits die Rede. Im Rathaus schrillen seither die Alarmglocken. Eine rote Gewerkschaft, die eine rote Stadträtin öffentlich derart massiv kritisiert - das hat es im Konsens orientierten Wien lange nicht gegeben.
Doch was drängt Menschen wie Löwenpapst, die Tag für Tag an der Bettenfront ihr Bestes geben, plötzlich auf die Straße? "Wir betreuen immer mehr Patienten in immer kürzerer Zeit", sagt die Mutter eines Sohnes. Personal wird nicht oder nur sehr spät nachbesetzt. Weniger Pfleger müssen dieselben Dienste schupfen. "Burn-out war vor wenigen Jahren noch kein Thema. Heute sehr wohl." Immer mehr Zeit gehe für Papierkram und Putzdienste drauf. Noch in den 80er-Jahren gab es für Dokumentationszwecke ein Buch für alle Patienten einer Station. Heute führt das Pflegepersonal über jeden einzelnen Patienten ein eigenes Dossier. "Wenn das so weiter geht, droht der Kollaps", ist Löwenpapst, die selbst auch in der Personalvertretung tätig ist, überzeugt.
Panikmache?
Doch wie schlimm ist es tatsächlich um die 32.000 Mitarbeiter des Krankenanstaltenverbunds (KAV) bestellt? Kündigungen werden keine ausgesprochen und immerhin weisen die Zahlen des Ministeriums dem Wiener Gesundheitswesen einen überdurchschnittlich hohen Personalstand aus. "Angesichts dessen nur über mehr Personal reden zu wollen, halte ich für kurzsichtig", sagt Gesundheitsstadträtin Sonja Wehsely (SP). "Ich schließe nicht aus, dass es einzelne Abteilungen gibt, wo zu wenig Personal vorhanden ist; aber es gibt auch solche, die zu viel haben. Hier müssen wir ansetzen."
Der Gesundheitsökonom Ernest Pichlbauer sieht das ähnlich. Er ist sicher, dass die personelle Ausstattung auf einzelnen Stationen "äußerst miserabel" ist. "Doch die Gewerkschaft ist auch Wolf im Schafspelz. Zu lange wehrte sie sich dagegen, Personal flexibel einzusetzen. Wenn nun Posten nicht nachbesetzt werden, trifft es die Falschen besonders hart." Die Politik ist demnach frei von Schuld? "Mitnichten", sagt Pichlbauer. "Sie müsste den einzelnen Spitälern die Personalkompetenz zurückgeben. Die wissen am besten, wer wann wo gebraucht wird." Ein Kompromiss scheint jedoch in weiter Ferne. Zum Leidwesen der Pflegekräfte. Christine Löwenpapst zuckt mit den Schultern. Auf die Frage, wie's nun weitergehen soll, fällt ihr nur noch Goethe ein. "Das ist dann wohl die Gretchenfrage." Für Anfang Oktober sind weitere gewerkschaftliche Maßnahmen angekündigt.