Chronik/Wien

Welle der Solidarität: "Thank you Austria"

Am Bahnsteig neun fährt in wenigen Minuten ein Zug Richtung Deutschland. Es gibt noch 200 freie Plätze!": Mit Durchsagen auf Syrisch und Afghanisch versuchten die ÖBB, drohendes Chaos in geordnete Bahnen zu lenken. Mit Erfolg.

Obwohl sich Tausende Flüchtlinge vor und auf den Bahnsteigen drängten, herrschte Ordnung. Mitten drin verteilten freiwillige Helfer der Caritas und Private Lebensmittel, Spielzeug und Toiletteartikel. Kurzum: Der Wiener Westbahnhof war am Samstag zur Drehscheibe zwischen Ungarn und Deutschland geworden. Denn fast alle Flüchtlinge hatten nur ein Ziel: die Weiterreise nach Deutschland.

Bereits in den frühen Morgenstunden waren zwei Züge mit rund 400 Flüchtlingen aus Ungarn angekommen. "Die Leute haben geklatscht, geweint, gestrahlt", schilderte Klaus Schwertner, Geschäftsführer der Caritas, die ersten Minuten am Westbahnhof. Weil die Kleidung der Asylwerber durchnässt war, wurden Decken und neue Wäsche ausgegeben. Zum Aufwärmen gab es Tee.

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Während am Bahnsteig die Flüchtlinge nach und nach ankamen, stürmten spendenwillige Österreicher die Sammelstelle der Caritas in einem Nebengebäude. "Zuerst haben wir noch alles sortiert, das haben wir aber schnell aufgegeben", schilderte Helferin Andrea Egger die große Hilfsbereitschaft.

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"Ich habe auf Facebook gelesen, was benötigt wird, und bin dann sofort einkaufen gegangen", erzählte Marlene Zehetner. Zugleich rief sie eine Freundin an, die ebenfalls zum nächsten Supermarkt lief. Elisabeth Czembirek hatte hingegen einen Anruf einer Freundin aus Nickelsdorf bekommen: "Sie hat mir die schlimme Situation geschildert, dass die Leute zu Fuß über die Grenze laufen, zum Teil durchnässt." Also packte sie Kleidung, die sie auf die Schnelle finden konnte, ein und fuhr zum Westbahnhof.

Helfende Hände

Während die einen Lebensmittel zum Zentrallager brachten, verteilten andere ihre Spenden gleich vor den Gleisen. Mit einem vollgefüllten Einkaufswagen stand Brigitte Höfel beim Eingang: "Jede Hand ist heute hilfreich." Alle wollten helfen. Die Flüchtlinge waren mit den vielen Spenden, die ihnen in die Hände gedrückt wurden, jedoch zugleich etwas überfordert.

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Das Spendenlager der Caritas ging im Lauf des Tages sowohl mit Lebensmittel als auch mit Kleidung und Schuhen über. Über Lautsprecher wurde aufgerufen, vorläufig keine Spenden mehr abzugeben.

Brigitte Pirker hatte den Kindern Blöcke, Malstifte und Stofftiere mitgebracht: "Wenn sie mit etwas spielen, werden sie ein wenig abgelenkt, und ihre Augen strahlen wieder ein wenig." Die Kinder ein wenig abzulenken versuchte auch Jugendtherapeutin Kornelia Kofler: "Die stehen alle unter Stress, sind zum Teil verwahrlost. Sie bräuchten endlich wieder eine gewisse Alltagsstruktur." Die Reaktionen der Kinder waren konträr. Während einige mit Stofftieren spielten, zogen sich andere zurück und zeichneten still vor sich hin.

Am Nebenstand sammelten Freiwillige Geldspenden. Damit sollten den Gestrandeten Tickets bezahlt werden. Darauf wartete auch der Syrer Majed Trabisi, der in der Früh mit dem Bus aus Ungarn gekommen war. In seinen Händen hielt er ein Plakat mit der Aufschrift: "Thank you Austrian – Dankeschön." Knapp einen Monat hatte er in Budapest verbracht, die Versorgung sei schlecht gewesen. Deshalb wollte er sich nun umso mehr bei allen Österreichern bedanken.

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Zwischendurch fuhren immer wieder Züge Richtung Salzburg und weiter nach München ab. Jene Passagiere, die einen Platz gebucht hatten, bekamen aber den Vorzug. "Es ist schon etwas schwierig, das den Flüchtlingen zu erklären", schildert ein Zugbegleiter.

Andere suchten Rat bei Ahmed Merabet, einem ÖBB-Mitarbeiter, der vor fünf Jahren aus Syrien nach Österreich gekommen war und den Flüchtlinge nun die Reise nach Deutschland erklärte: "Eine Familie wollte nach Passau, aber dahin gibt es keine Direktverbindung." Umso schwieriger war die Erklärung, wo sie in welchen Zug umsteigen müssen.

An den Gleisen entspannte sich das Gedränge am Nachmittag. Seitens der ÖBB wurden zu den regulären Zügen auch Sonderzüge eingeschoben. Die meisten Flüchtlinge wollten so schnell wie möglich nach Deutschland. Der Wunsch sollte sich am Samstag jedoch nicht für alle erfüllen. Das Rote Kreuz und die Stadt Wien hatten sich deshalb für die Übernachtung der Menschen gerüstet. Zu den bereits aufgestellten 250 Betten am Bahnhof wurden nochmals 100 weitere aufgebaut. Sollte der Bedarf nicht reichen, stünden noch genügend weitere Plätze zur Verfügung, versicherte der Wiener Flüchtlingskoordinator Peter Hacker. Keiner müsse am Bahnhof übernachten, "aber ob sie uns nach all den Erfahrungen vertrauen – da bin ich skeptisch".

Um dem Anstrom am Westbahnhof Abhilfe zu schaffen, wurden einige Flüchtlinge im Laufe des Tages mit Bussen direkt von Nickelsdorf nach Salzburg und schließlich nach Deutschland gebracht. Den Bahnhof in Salzburg passierten gestern 9500 Flüchtlinge, weitere 600 verbrachten die Nacht auf Sonntag dort.

Mit letzter Kraft

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Bei Hegyeshalom schleppten Samstagmittag zwei junge Syrer ihre offensichtlich von der Flucht schwer gezeichnete Großmutter über die Grenze nach Österreich. Die ältere Dame schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Sie habe starke Schmerzen an den Füßen, deutete sie. Der 24-jährige syrische Student Ahmed Mahmud war seit einem Monat auf der Flucht nach Europa. Dass er jetzt in Österreich angelangt war, mache ihn glücklich. "Alle hier sind glücklich, alle freuen sich."

Am Grenzübergang Nickelsdorf herrschte am Samstag eine Ausnahmesituation. 10.000 Flüchtlinge waren bis zum frühen Nachmittag zu Fuß über die Grenze gekommen, nachdem sie Busse auf ungarischer Seite aussteigen ließen. "Mit dieser Menge an Leuten haben wir nicht gerechnet", sagt Landespolizeidirektor Hans Peter Doskozil. Der Informationsfluss von ungarischer Seite sei dieses Mal nicht so verlaufen, wie man sich das erhofft hätte. „Wir wissen nicht, wie viele heute noch kommen“, sagt Doskozil. Nur 20 stellten in Österreich einen Asylantrag. An der Grenze standen Busse bereit. „Die Transporte erfolgen im Stakkato“, sagt Doskozil. Sie brachten die Menschen zum Bahnhof nach Nickelsdorf oder in die Nova Rock-Halle.

Und dort machte sich auch der burgenländische Landeshauptmann Hans Niessl (SPÖ) ein Bild von der Lage. Raeft Saleh schüttelte Niessl die Hand: „Danke für den Frieden und die Gastfreundschaft“, sagt der Syrer, der mit seiner Frau und sechs Kindern gekommen ist. Später schüttelte Saleh auch Kardinal Christoph Schönborn bei dessen Besuch die Hand. Auch Innenministerin Johanna Mikl-Leitner war vor Ort – und wurde nicht nur freudig empfangen. Aktivistinnen forderten sie auf, zu gehen – im Anschluss entwickelte sich ein Wortgefecht mit einem Begleiter der Ministerin. Eine Aktivistin wurde zu Boden gestoßen.

Samstagabend teilte der ungarische Polizeichef Karoly Papp mit, ab sofort keine Busse zum Flüchtlingstransport mehr bereitstellen zu wollen. In der Nacht auf Sonntag werde es auch keine Flüchtlingstransporte vom Grenzübergang Nickelsdorf nach Wien geben, hieß es. Züge allerdings fuhren vereinzelt. ÖBB-Chef Christian Kern erwartete in der Nacht auf Sonntag noch 1500 Flüchtlinge am Westbahnhof. Sie mussten in Notquartieren in Wien und Niederösterreich untergebracht werden. Laut Schätzungen der ÖBB dürften Sonntagfrüh weitere 5000 Menschen in Wien ankommen.

Trotz der geänderten Situation will am Sonntag eine Facebook-Aktivistengruppe mit einem Pkw-Konvoi nach Ungarn fahren, um dort eventuell umherirrende Flüchtlinge abzuholen. Organisatorin Erszebeth Szabo erklärt, dass bereits 3000 Menschen ihre Teilnahme angekündigt hätten.

Um 11 Uhr soll beim Praterstadion abgefahren werden. Für 12 Uhr ist in Nickelsdorf ein Hupkonzert als Protest gegen die "menschenverachtende Dublin-Verordnung" geplant. Um 12.30 Uhr überquert der Konvoi die Grenze nach Ungarn und fährt auf der M1 so weit, bis er auf Menschen trifft, die auf dem Weg nach Wien sind. Szabo: "Wir werden die Flüchtlinge mitnehmen und sie sicher nach Wien bringen. Wir haben auch keine Angst mehr vor juristischer Verfolgung, weil sich die politische Lage über Nacht offensichtlich verändert hat." Für die Mitfahrenden hat sie noch eine Bitte: "Füllt eure Kofferräume mit warmer Kleidung, Schuhen, Nahrungsmitteln und Koffer und Taschen, die wir den Flüchtlingen übergeben können."