Chronik/Wien

Wiener FPÖ schnappt sich türkisen Gemeinderat

In freudiger Erregung kann bisweilen schon die eine oder andere Unschärfe passieren. Davon kann auch Wiens FPÖ-Chef Dominik Nepp ein Lied singen. Er durfte am Mittwoch via Twitter verkünden, einen türkisen Gemeinderat abgeworben zu haben: „Über 25 Jahre war Wolfgang Kiesling Mitglied der ÖVP“, schrieb Nepp. Dass es sich bei dem Abgeordneten eigentlich um Wolfgang Kieslich handelt, tat der Genugtuung keinen Abbruch.

Tatsächlich war Kieslich, der in einer eilig einberufenen Pressekonferenz präsentiert wurde, bis vor Kurzem ÖVP-Parteichef in Simmering. Doch schon vor Monaten sei in ihm die Entscheidung gereift, die Partei, der er so lange angehört hatte, zu verlassen. „Als dann die ÖVP den geplanten Impfzwang verkündete, war für mich die rote Linie überschritten“, schilderte der 45-Jährige am Mittwoch seine Beweggründe. Wie berichtet, war Kieslich selbst für längere Zeit der einzig ungeimpfte Mandatar im Wiener Gemeinderat.

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Er sei von sich aus auf die FPÖ zugegangen, weil er weiterhin politisch tätig sein wolle, betont er. An seiner Ex-Partei lässt er kein gutes Haar: „Die ÖVP ist längst keine Mitte-Rechts-Partei mehr, sondern eine der Mitte“, ihre Grundwerte wie Wahlfreiheit, Leistung und Eigentum habe sie verraten.

Kieslich stört nicht nur die Corona-Politik der ÖVP – vom Lockdown für Ungeimpfte bis zur „Denunzierung aller Demo-Teilnehmer“. Auch in Sachen Lobautunnel sei man vor den Grünen „in die Knie gegangen“. Kurzum: „Nicht ich habe mich verändert, die ÖVP hat sich verändert.“

Laut geltender Geschäftsordnung wird Kieslich allerdings formal nicht im FPÖ-Klub aufgenommen, sondern diesem als „wilder“ Abgeordneter angehören. Teil der Fraktion könnte er nur werden, wenn er auch für die FPÖ kandidiert hätte.

Nepp will weitere Absetzbewegungen aus der ÖVP nicht ausschließen, er ortet ein Rumoren bei den Türkisen: Bei dem Antrag der Freiheitlichen gegen die Impfpflicht hätten gleich acht ÖVP-Abgeordnete den Saal verlassen, um nicht mitstimmen zu müssen.

"Reisende nicht aufhalten"

Bei der ÖVP gibt man sich zur Causa Kieslich wortkarg: „Reisende soll man nicht aufhalten“, hieß es am Mittwoch. „Die Volkspartei hat klare Werte. Wenn sich jemand offenbar nicht mehr damit identifizieren kann, ist der Schritt, die Partei zu verlassen, sicher die beste Lösung.“

Lange Querelen

Bis vor Kurzem war Kieslich auch in der ÖVP-Bundespolitik verankert: Er war Teil des politischen Kabinetts von Magnus Brunner, als dieser noch Staatssekretär im Umweltministerium war. Kieslich wechselte nicht mit Brunner ins Finanzministerium.

Bald darauf wurden die Differenzen mit seiner Partei immer augenscheinlicher: Nach längeren internen Streitigkeiten trat Kieslich im Dezember als Chef der Simmeringer ÖVP zurück. Dem Vernehmen nach soll es davor Bemühungen gegeben haben, ihn abzuwählen. Mit ihm nahm damals auch seine Stellvertreterin Anita Müllner den Hut.